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„Unsere Freiheiten wertschätzen“

Klara-Oppenheimer-Schule in Würzburg, 4. Dezember 2020:

In den Medien werden sie als Generation Corona bezeichnet. Sie galten zunächst als Pandemie-Treibende und werden zunehmend als Leidtragende gesehen, die von den Einschränkungen besonders stark betroffen sind. Doch wie erleben Jugendliche selbst die Corona-Krise? Die erste Demokratiewerkstatt der Reihe findet in einer Berufsschule statt. Die zehn Teilnehmenden sind um die 17 Jahre alt. Sie sitzen mit Masken und Abstand zueinander vor ihren Tablets im Klassenzimmer. Die Moderatorinnen Aylin von Platen und Julia Blum-Linke zeigen ihnen ein Bild mit zwölf bunten Fischchen. Jeder steht für eine Stimmung – von betrübt bis verliebt. Dazu die Frage, welcher Fisch bist Du gerade? Die Antwort der Schülerinnen und Schüler ist eindeutig: Sie sind gelangweilt und zornig. Dann fangen sie an zu erzählen. Das Bedürfnis, über die frustrierende Situation zu sprechen, ist offensichtlich groß. Manche zeigen die Pickel, die sie von ständigen Maskentragen bekommen. Eine Schülerin sagt, dass sie sogar Kopfschmerzen von der Maske bekomme. „Die Masken machen uns so gleich und ausdruckslos. Ich weiß gar nicht mehr, wann mich das letzte Mal jemand im Vorbeigehen auf der Straße angelächelt hat“, sagt eine Mitschülerin. Das Gegenüber verschwindet hinter der Maske und auch man selbst wird nicht mehr gesehen – beiläufige kleine Begegnungen fallen weg.

Die Masken machen uns so gleich und ausdruckslos. Ich weiß gar nicht mehr, wann mich das letzte Mal jemand im Vorbeigehen auf der Straße angelächelt hat.

An der Würzburger Schule sind die Klassen halbiert worden, die Gruppen werden abwechselnd im Zweiwochenrhythmus unterrichtet. Das heißt, einen Teil des Unterrichtsstoffes müssen sich die Schülerinnen und Schüler jetzt alleine aneignen, ohne Stundenplan, ohne Erläuterungen der Lehrkräfte und ohne Austausch untereinander. Eine Herausforderung, die für einige mit hohem Druck verbunden ist. Auch in der Schule muss jetzt Abstand gehalten werden. Gruppenarbeit ist kaum noch möglich. Die Schülerinnen und Schüler vermissen die Nähe, die sie sonst zueinander haben, viele kleine Dinge, wie etwa die Umarmung zur Begrüßung.

Zudem leiden sie an der angespannten und bisweilen aggressiven Stimmung im öffentlichen Raum. Sie erzählen davon, wie sie angeschrien wurden, weil sie vermeintlich den Mindestabstand nicht eingehalten hatten.

Es zeigt sich, dass viele der Teilnehmenden Angst haben: vor der Krankheit, aber auch davor, wieder in Quarantäne zu müssen. Manche mussten sich bereits als Kontaktperson für zwei Wochen zuhause einschließen – keine schöne Erfahrung.

Doch worunter sie vor allem leiden, ist etwas anderes: sich nicht mehr treffen zu können. „Wer bleibt denn mit 17 Jahren schon gerne zuhause?“, meint eines der Mädchen. „Ich bin der totale Rausgehmensch“, sagt ein anderes. „Wenn ich mir die Bilder von Silvester letztes Jahr anschaue, das war echt eine coole Zeit.“ Mit Gleichaltrigen zusammen zu sein – in fast keinem Alter ist das so wichtig wie für Heranwachsende. „Wir sitzen zuhause und gucken Netflix und essen die ganze Zeit. Ich will die ganze Zeit nur essen“, beschreibt eine weitere Schülerin ihre Situation. Soziale Medien spielen für sie alle in dieser Zeit eine besonders wichtige Rolle, doch sie merken auch, dass Instagram und Co. echte Geselligkeit nicht ersetzen können. „Es gibt ja solche Apps, Houseparty und so, aber das ist nicht das Gleiche. Das gemeinsame Lachen fehlt.

Ich verbringe mehr Zeit mit der Familie. Das ist doch eigentlich etwas Schönes.

Und dennoch, gibt es in Corona-Zeiten nicht auch positive Erlebnisse? Ein Schüler sagt: „Ich verbringe mehr Zeit mit der Familie. Das ist doch eigentlich etwas Schönes.“ Eine Mitschülerin findet es gut, dass sie nicht mehr jedem die Hand geben muss. „Man wird nicht mehr von Leuten berührt, von denen man das nicht möchte.“ Jemand bemerkt, dass sich jetzt herausstelle, wer wirklich eine Freundin oder ein Freund sei. Mit wem man sich treffen wolle und mit wem weniger.

Doch was kann man gegen die große Unzufriedenheit tun?“, fragt die Moderatorin Julia Blum-Linke. „Gar nichts“, antwortet eine Schülerin und es wird deutlich, wie hilflos die Jugendlichen sich fühlen. Sie sind wütend über die Maßnahmen, die ihre Selbstbestimmung so drastisch einschränken. Die Menschenleben retten sollen und über die deswegen keine Diskussion möglich zu sein scheint. Und nicht immer sind die Maßnahmen nachvollziehbar, wie eine Schülerin bemerkt: „In einem Bahnhof habe ich ein Schild gesehen: ‚Maskenpflicht von 6 bis 22 Uhr’. Da frage ich mich: Schläft der Virus in der Zwischenzeit?“ Sie sind nicht gefragt worden. Als die Entscheidungen zu Kontaktbeschränkungen getroffen wurden, war keine Zeit für einen breiten, gesellschaftlichen Diskurs. Auch deswegen fällt es teilweise schwer, das alles zu akzeptieren.

Was müsste also anders sein? Im Klassenzimmer herrscht Ratlosigkeit. Die Schülerinnen und Schüler wirken niedergeschlagen. Die Corona-Krise hat die Handlungsspielräume stark eingegrenzt, es gibt kaum Entscheidungsmöglichkeiten bzw. nehmen die Jugendlichen diese nicht wahr, haben nicht das Gefühl mitentscheiden oder mitsprechen zu können. Umso wichtiger scheint es, kreativ zu sein, um den Mut nicht zu verlieren. Etwa, sich an die schönen Dinge zu erinnern, die man vor Corona erlebt hat. Ein Mädchen erzählt ein Beispiel: „Wir haben uns Adventskalender geschenkt. Jeden Tag ein Bildchen mit Sachen, die wir vor Corona zusammen gemacht haben.

Die Workshop-Moderatorin lädt die Schülerinnen und Schüler zu einem Gedankenexperiment ein: „Stellt Euch vor, Ihr seid die Bundeskanzlerin oder die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident eines Bundeslandes, was würdet ihr denn tun?“ Spontan kommt der Vorschlag, dass es erlaubt sein müsste, zwischendurch aus dem Unterricht zu gehen, um draußen – ohne Maske – frische Luft zu schnappen. Es gibt Zustimmung: „Gute Idee, dann könnte man auch eine rauchen.“ Aber auch Widerspruch: „Das geht doch nicht, dass alle die ganze Zeit rein- und rausrennen.“ Die Diskussion zeigt im Kleinen die Herausforderung, Entscheidungen für eine größere Gruppe oder Gesellschaft zu treffen, die von möglichst vielen auch mitgetragen werden. An dem Beispiel erleben die Schülerinnen und Schüler, wie wichtig gegenseitige Wertschätzung in der Diskussion ist: die Meinung der anderen zu respektieren und zugleich zu akzeptieren, dass die eigene Meinung von anderen nicht unbedingt geteilt wird.

Ich glaube, wir werden alle diese Sachen, die uns so selbstverständlich waren, wie Leute treffen, Reisen oder ohne Maske rumlaufen, viel stärker wertschätzen.

Zum Abschluss sprechen die Jugendlichen über wichtige Erfahrungen, die sie in der Krise machen und die sie in die Zeit nach Corona mitnehmen werden. „Ich glaube, wir werden alle diese Sachen, die uns so selbstverständlich waren, wie Leute treffen, Reisen oder ohne Maske rumlaufen, viel stärker wertschätzen“, sagt eine Schülerin. Ein andere berichtet, dass sie gelernt habe, mehr auf ihre Mitmenschen zu achten und nicht nur an sich selbst zu denken. Eine Mitschülerin spricht sogar von Dankbarkeit: „Ich werde dankbar sein, wenn ich mich wieder mit Freunden treffen kann und machen kann, was ich will.

Graphic Recording zur Demokratiewerkstatt:

 

Text: Wibke Bergemann