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„Offen bleiben auch für Andersdenkende“

Stadtjugendring in Straubing, 11. Dezember 2020:

An der digitalen Demokratiewerkstatt in Straubing nehmen Jugendliche zwischen 13 und 14 Jahren teil. Sie alle sind im Stadtjugendring aktiv. Es ist eine besondere Situation: Erst zwei Tage vor dem Workshop hat Bayern einen neuen Lockdown erlassen. Entsprechend leiden die Jugendlichen an Langeweile, aber auch an Verunsicherung: Wie geht es weiter? Einige von ihnen können dagegen auch gute Seiten an der Pandemie entdecken: „Ich bin irgendwie stolz, an einem Jahrhundertereignis teilzuhaben. Über Corona wird auch in 100 Jahren noch gesprochen werden“, sagt ein 14-Jähriger. „Ich bin sehr neugierig, ob es durch Corona eine Veränderung der Werte in unserer Gesellschaft geben wird. Vielleicht werden wir das Zwischenmenschliche wieder mehr wertschätzen, wenn wir für eine Zeit darauf verzichten müssen“, meint ein anderer.

Über eine kollaborative Online-Plattform sollen sich die Jugendlichen zu Kleingruppen zusammenfinden. Auf dem virtuellen Whiteboard schieben alle ihre Figuren zu dem Thema, zu dem sie gerne arbeiten möchten. So entsteht auf dem Bildschirm ein lustiges Gewusel, das an einen richtigen Workshop erinnert – bis alle ihren Platz gefunden haben. Die Gruppenarbeit verläuft dann in separaten Räumen der Online-Konferenz.

Die einen kriegen das gut hin. Für die ist es eine positive Erfahrung, selbständig zu lernen und mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Die anderen sind damit überfordert.

Die Arbeitsgruppe zum Thema „Corona in der Schule“ berichtet von einem erhöhten Leistungsdruck. Bereits im letzten Schuljahr sei viel ausgefallen. „Den verpassten Lernstoff haben wir jetzt im Herbst ‚reingeprügelt’ bekommen“, meint ein Jugendlicher. Ein anderer bestätigt, dass es zwei Gruppen in der Schule gebe: „Die einen kriegen das gut hin. Für die ist es eine positive Erfahrung, selbständig zu lernen und mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Die anderen sind damit überfordert.“ Denn die Ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler sind sehr unterschiedlich, oft fehlen die entsprechenden Methoden und die Übung im selbständigen Lernen. Und nicht zuletzt: „Eine Pandemie ist im Lehrplan einfach nicht vorgesehen.

Die Arbeitsgruppe zum Bereich „Politik und Medien“ reißt ein weites Feld von Problemen an. Unter anderem macht sie die sozialen Medien dafür verantwortlich, mit Verschwörungstheorien viele Menschen zu verunsichern. Doch auch die Politik habe ihren Teil dazu beigetragen, weil die Ziele bei vielen Maßnahmen nicht nachvollziehbar seien. „Mir fehlt das Verständnis, wenn Entscheidungen gefühlt alle zwei Tage revidiert werden“, sagt ein Jugendlicher. „Wenn wir zum Beispiel für eine Klassenarbeit lernen und plötzlich ist wieder Distanzunterricht.

Mit diesem Input geht es dann ins philosophische Gespräch über die Frage: Was macht eine Krise mit uns und der Gesellschaft? „Was sind die Gedanken, die wir dazu haben? Was sind die Fragen, die wir dazu haben?“, erläutert die Moderatorin Theres Lehn diese Form des miteinander Sprechens. „Alle Antworten haben hier Platz im Raum.“ Es geht auch darum, voneinander zu lernen.

Schnell gelingt es den Jugendlichen, zu abstrahieren und über die konkrete Corona-Situation hinaus zu denken:

Eine Krise zwingt eine Gesellschaft zu reagieren und zu entscheiden, wo sie Abstriche machen will. Denn irgendwas muss in einer Krise zurückstecken und leiden. Man muss deswegen Kompromisse finden.

Corona sei anders als andere Krisen, meint einer der Jugendlichen. „Bei Fridays for Future oder Black Lives Matter kann man aktiv werden und zu Veränderungen beitragen, indem man an Demonstrationen teilnimmt und sein eigenes Verhalten ändert. Aber wegen Corona zu Hause zu bleiben, das fühlt sich einfach nicht wie Aktivismus an, auch wenn ich weiß, dass ich damit die Pandemie bekämpfe.“ Auch die Gesprächskultur sei eine andere als in anderen Krisen. Dennoch müsse man mit den Leuten kommunizieren, die an den Maßnahmen zweifeln. „Man muss Grundstandpunkte finden, auf die man sich einigen kann.

Wie könnten wir in der Gesellschaft besser zusammenarbeiten?“, fragt die Moderatorin. Unsere Gesellschaft sei zu divers, als dass eine Zusammenarbeit auf eine gemeinsame Utopie hin möglich sei, meint einer der Jugendlichen. Sich zusammenzufinden, das gelinge nur für punktuelle Ziele. „Aber sind wir denn keine Gemeinschaft mehr?“ „Wir sind nicht nur Individuen, aber Diversität bestimmt nun mal unsere Gesellschaft“, gibt der Jugendliche zu Bedenken und man kann ihm förmlich beim Denken zuschauen. Die anderen hören ihm gespannt zu. „Das Gegenteil wäre China. In einer Diktatur lässt sich eine Pandemie ganz einfach bekämpfen. Das ist das Kreuz der Demokratie. Wir müssen das eben aushalten, dass Leugner von Klimawandel und Virus ihre Meinung sagen dürfen, auch wenn es hirnrissig ist.

Die Moderatorin zeigt den Jugendlichen eine Wertewolke, um sie anzuregen, darüber nachzudenken, was ihnen wirklich wichtig ist. Mit großer Ernsthaftigkeit vertiefen sie sich in die Begriffe, mit denen sich so vieles verbinden lässt und die Erfahrungen ebenso wie Wünsche bewusst machen. Einige Jugendliche entscheiden sich spontan, andere grübeln lange und sind überrascht, als die Zeit um ist. Am Ende wählen mehrere von ihnen „Toleranz“ und „Hilfsbereitschaft“. Doch auch: „Gleichberechtigung“, „Harmonie“ und „Respekt“.

Ich denke, dass ich keine Verunsicherung ausstrahlen sollte, da ich andere Leute so auch dazu bringen kann, keine Angst zu haben.

Zum Abschluss möchte die Moderatorin ganz konkret von den Jugendlichen wissen, was sie in der folgenden Woche tun könnten, um ihre Werte zu leben? „Eine Inspiration suchen für etwas, das über das Regeleinhalten hinausgeht!“, antwortet einer. Und sie wollen Vorbilder sein: „Ich denke, dass ich keine Verunsicherung ausstrahlen sollte, da ich andere Leute so auch dazu bringen kann, keine Angst zu haben.“ Vor allem wollen sie mehr mit anderen sprechen, offene Ohren für deren Bedürfnisse haben, auch mit anders Denkenden den Austausch suchen. Das philosophische Gespräch hat sie zum Reden gebracht und offensichtlich Lust auf mehr geweckt. Es wird sie noch eine Weile beschäftigen.

Graphic Recording zur Demokratiewerkstatt:

 

Text: Wibke Bergemann