Berufskolleg in Kleve, 10. Dezember 2020:
Eine weitere Demokratiewerkstatt findet an einem Berufskolleg in Kleve statt, die Teilnehmenden sind junge Erwachsene um die 18 Jahre, und als solche wollen sie auch gehört und an Entscheidungen beteiligt werden.
Schon in der ersten Runde, in der es darum geht, wie sie sich fühlen und was gerade in unserer Gesellschaft passiert, zeichnen sie ein sehr differenziertes und reflektiertes Bild von der aktuellen Situation mit Corona. Eine Schülerin sagt, dass sie Angst habe, sie könnte ihre Großeltern zu Weihnachten anstecken. Ein Mitschüler äußert sich erschrocken darüber, wie sehr sich das Land in einem Jahr verändert habe: „Die gesellschaftliche Spaltung wird immer extremer: Die einen scheinen alle Maßnahmen einfach hinzunehmen, die anderen sind gegen alles, was die Bundesregierung macht.“ Zudem sind die Schülerinnen und Schüler verärgert über das Verhalten von Teilnehmenden der „Querdenker“-Demonstrationen. „Kein Abstand, keine Masken – das ist sehr rücksichtslos gegenüber denen, die richtig krank sind oder waren“, beschreibt es einer.
In kleineren Arbeitsgruppen werden in Mindmaps in Padlets die Veränderungen in den verschiedenen Lebensbereichen gesammelt: Wie betrifft die Corona-Krise Freundinnen und Freunde, Bekannte und Familie? Wie wirkt sie sich auf den Schulalltag aus, auf Politik und Medien, auf den öffentlichen Raum? Vor allem in der Arbeitsgruppe „Politik und Medien“ wird angeregt diskutiert, am Ende ist das Padlet fast zu klein für die Menge an Stichworten, die die Gruppe notiert, darunter „Panikmacherei“, „fehlgeschlagene Polizeiarbeit“ oder „zu wenig Mitsprache der Bürger“. Die Gruppe kritisiert die fehlende Transparenz bei den Entscheidungen über Corona-Maßnahmen. Es sei schwer nachvollziehbar, dass in manchen Bereichen sehr strenge Regeln gelten und in anderen nicht. Die Maßnahmen seien widersprüchlich. Außerdem seien durch die Streitereien zwischen Bund und Ländern über die Corona-Regeln viele Menschen verwirrt: Wie soll man sich verhalten? Was ist richtig? Auch deswegen würden viele Menschen die Maßnahmen nicht akzeptieren.
„Man sollte zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden können.“
Ein anderes Problem sieht die Arbeitsgruppen darin, dass den Wissenschaften zu wenig Vertrauen entgegengebracht wird. Stattdessen verbreiten Corona-Leugnerinnen und -Leugner im Internet ihre eigenen Nachrichten. „Man sollte zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden können“, meint ein Schüler. Denn im schlimmsten Fall basieren die Meinungen nicht mehr auf Fakten. Dann gehe jede Gesprächsgrundlage verloren.
Auch in der Schule, kritisieren die Schülerinnen und Schüler, sei über ihre Köpfe hinweg entschieden worden. Sie verstehen nicht, warum das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen auf den Präsenzunterricht besteht. „Warum darf ich mich außerhalb der Schule mit maximal fünf Leuten treffen, in der Schule sind aber 20 erlaubt? Das hat uns niemand erklärt. Dabei sind wir uns der Gefahr bewusst, dass wir den Virus auch mit nach Hause bringen könnten“, sagt ein Schüler. Das fehlende Verständnis habe aber Konsequenzen, denn es führe dazu, dass für viele die Maßnahmen außerhalb der Schule auch keinen Sinn mehr machten.
„Wenn man mit uns sprechen würde, gäbe es mehr Verständnis für die Regeln und wir könnten Vorschläge machen, wie man das besser machen kann.“
Die Stichworte in den Padlets geben einen Überblick über die gegenwärtige Situation der Schülerinnen und Schüler. Im philosophischen Gespräch können sie dann ihre Gedanken vertiefen. Das Thema: Was macht eine Krise mit der Gesellschaft und mit uns? Die Moderatorin Ellen Rieder erklärt, dass es bei einer philosophischen Frage um mehr als um richtig oder falsch gehe. Wichtig sei auch, aufeinander Bezug zu nehmen, um zusammen zu denken und zusammen zu wachsen. Sie fragt danach, was sich die Schülerinnen und Schüler in der ungewohnten Situation gewünscht hätten, was sie gebraucht hätten. „Ich würde mir wünschen, dass man uns in der Schule die Maßnahmen erklärt“, antwortet ein Schüler. „Die Schulministerin sollte nicht nur auf ihre Berater hören, sondern auch mit denjenigen sprechen, die jeden Tag in der Schule sitzen und wissen, was hier passiert. Dann könnte man unsere Wünsche mit den Infektionsschutzgesetzen zusammenbringen.“ Ein Mitschüler pflichtet ihm bei: „Die Maßnahmen schlagen teilweise fehl, das kann man schon vor der Schule sehen, wo die Schülerinnen und Schüler eng zusammenstehen. Wenn man mit uns sprechen würde, gäbe es mehr Verständnis für die Regeln und wir könnten Vorschläge machen, wie man das besser machen kann.“ Ein anderer Schüler ergänzt, dass es für ihn völlig unverständlich sei, dass die Schule nicht auf Homeschooling umstelle. „Das würde die Gefahr, dass wir uns infizieren, doch sehr verringern.“
„Ich frage erstmal, was ist dein Standpunkt, woran machst du das fest? Ich versuche so wenig wie möglich emotional zu argumentieren.“
Eine Verständigung ist gerade jetzt, in der angespannten Situation, wichtig, meinen mehrere in der Klasse. Die meisten haben auch im eigenen Umfeld mit Leuten zu tun, die die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen nicht ernst nehmen oder sogar ablehnen. „Manche Leute reagieren so, weil sie nie nach ihrer Meinung gefragt werden und das Gefühl haben, dass sich niemand für ihre Meinung interessiert“, sagt ein Schüler. Ein anderer meint, man müsse miteinander ins Gespräch kommen. „Ich muss den Leuten sagen, du bist noch immer der Gleiche wie vorher für mich. Nur teile ich jetzt deine Meinung nicht.“ Es gehe darum, Verständnis für die Sicht der anderen zu haben, meint eine Schülerin. „Wenn man sich in einen Gastronomen hineinversetzt, dann kann man sich vorstellen, warum der gegen die strengen Maßnahmen ist. Dafür braucht man aber Empathie.“ Doch ein Mitschüler sieht auch Grenzen: „Ich frage erstmal, was ist dein Standpunkt, woran machst du das fest? Ich versuche so wenig wie möglich emotional zu argumentieren. Aber es gibt Leute, bei denen das nichts bringt. Die werden laut und hören gar nicht zu.“
Die Moderatorin hakt nach: Wie lassen sich Brücken bauen, um die Leute einzubinden? Bildung sei wichtig, meint eine Schülerin, „um alle mehr oder weniger auf den gleichen Wissensstand zu bringen.“ Ein Mitschüler sagt, dass man einen Ort brauche, wo eine Kommunikation außerhalb der eigenen Blase möglich ist, um die Vielfalt der Meinungen besser darzustellen. Doch was für Räume könnten das sein? Es kommen verschiedene Vorschläge: Sitzungen mit Bürgerinnen und Bürgern im Rathaus etwa, oder auch ein Kurs z.B. in der Volkshochschule, um sich politisch auszutauschen – „so wie wir das hier gerade machen.“
Was könnten Entscheidungsträgerinnen und -träger in dieser Situation also besser machen? „Ein härteres Durchgreifen gegen die ,Querdenker‘-Demos!“ Und eine konsequentere Umsetzung der Schutzmaßnahmen: „Die Politik sollte sich nicht so schwer tun mit Entscheidungen, die Menschenleben retten sollen.“ Andererseits wünscht sich die Klasse mehr Mitbestimmung. Politikerinnen und Politiker sollten ihre Vorhaben transparenter und genauer erklären, „damit man sich nicht allein gelassen fühlt“. Statt über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu entscheiden, sollten sie miteinbezogen werden. Auch Schülerinnen und Schüler sollten nach ihrer Meinung gefragt werden: „So kann man besser verstehen, ob eine geplante Maßnahme funktionieren wird oder nicht.“
Am Ende ist den Schülerinnen und Schüler anzumerken, dass die Diskussion sie zum Nachdenken gebracht hat. Das Thema Corona beschäftigt sie wie kein anderes. Doch vor allem haben sie in der offenen Form des Gesprächs erlebt, wie man sich zuhören und gegenseitig auf neue Ideen bringen kann – eine Erfahrung, die sie mitnehmen werden. „Ich werde weiter das Gespräch suchen, aber Leute nicht abschreiben, wenn sie eine andere Meinung haben“, sagt ein Schüler. Sein Mitschüler bringt es auf den Punkt: „Wenn ich nochmal mitbekomme, dass jemand eine andere Meinung hat, werde ich versuchen, wirklich einen Austausch zu schaffen, statt ihn einfach zu ignorieren. Dann fühlt sich der andere ernstgenommen und das schafft Zusammenhalt.“
Graphic Recording zur Demokratiewerkstatt: