Zwei Schülerinnen der ViFa-AG mit einer Urkunde am Ende der Basisausbildung zur Demokratiebotin
Foto: Eva Keller

Wie demokratische Werte in der Schule erlebt und weitergegeben werden können.

Wie können wir demokratische Werte an unserer Schule vermitteln? Mit dem Engagement der Jugendlichen und der Unterstützung außerschulischer Kooperationspartner hat die ViFa AG der Singbergschule in Wölfersheim ihren Weg gefunden.

Am Anfang war alles offen. Als sich die AG „Vielfalt leben – Demokratie erleben“ zu Beginn des Schuljahres 2018/19 das erste Mal traf, gab es keine Vorgaben und keinen Ablaufplan. Nur das Bewusstsein der Schulleitung, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, verbunden mit dem Ziel, für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung aktiv zu werden – und großen Gesprächsbedarf bei den Schülerinnen und Schülern.

„Ich hatte schon länger das vage Bedürfnis, mich zu engagieren. Mit der AG war plötzlich die Möglichkeit dazu da“, sagt Naomi Hain.

Die 17-Jährige besucht die 12. Klasse und mit Unbehagen beobachten sie und die anderen AG-Mitglieder, wie demokratische Strukturen und Verhaltensweisen seit einiger Zeit vielerorts infrage gestellt werden. Der Rechtsruck in Europa, die Erfolge der AfD, NSU, Rassismus, offener Antisemitismus, Islamismus, Hass im Internet und Gewalt auf der Straße: All diese Themen brachten die Schülerinnen und Schüler bei den ersten Treffen der AG zur Sprache – und die Lehrerin hörte aufmerksam zu.

„Die Idee war, die Interessen der Schülerinnen und Schüler in den Fokus zu stellen. Meine Rolle habe ich eher darin gesehen, die Gespräche zu moderieren, weil ich überzeugt davon bin, dass die Jugendlichen durch Nachdenken und Diskutieren eher zu Erkenntnissen und einer Meinung finden als wenn ich ihnen fertige Informationen vorsetze“, erläutert Naouaim Miladi ihren Ansatz.

So hat die Lehrerin für Politik/Wirtschaft und Deutsch die AG mit Info-Material rund um die Themen Demokratie und Grundrechte versorgt und die Teilnahme am Hessischen Demokratie-Tag im Dezember 2018 und am Jugendkongress in Berlin im Mai 2019 organisiert – beides Veranstaltungen, die auf die Stärkung des gesellschaftlichen Engagements und der Demokratie zielen.

Als die ViFa AG die großen aktuellen Themen durchdiskutiert hatte, stellten sich die Jugendlichen die Frage: Was können wir tun? Wie können wir demokratische Werte vermitteln? Und ziemlich schnell waren sich alle einig: Ausgrenzung gibt es auch hier, an der Schule. Weil jemand die „falschen“ Klamotten trägt. Weil jemand klug ist, gerne lernt und fleißig mitarbeitet. Weil jemand eine Religion oder eine Herkunft hat, die anderen nicht passt.

„Ich habe selbst schon Mobbing beobachtet und wusste damals nicht, wie ich mich verhalten sollte. Deshalb fand ich es gut, in der ViFa AG etwas zu planen, was unserer Schulgemeinschaft hilft“, sagt Lukas Günther aus der 10. Klasse.

Das große Wort Demokratie greifbar machen, einen Alltagsbezug herstellen, indem man über Mobbing aufklärt: Damit hatte die ViFa AG ein konkretes Ziel formuliert. Doch wie ließ sich das Thema Ausgrenzung und Diskriminierung in die Klassen tragen? Die AG-Mitglieder dachten weiter nach, über Power Point Präsentationen, Vorträge und bunte Plakate mit griffigen Slogans. Aber: Zu langweilig, zu pädagogisch, zu sehr erhobener Zeigefinger, war die selbstkritische Meinung.

Die zündende Idee kam schließlich von der stellvertretenden Schulleiterin: Sie hatte durch ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Demokratiebildung schon mit Creative Change (CC) zu tun gehabt: einem Verein aus Offenbach, der mit theaterpädagogischen Mitteln versucht, demokratisches Denken zu fördern und Konflikte zu lösen. Dieser etwas andere, interaktive Weg der Anti-Diskriminierungsarbeit schien der ViFA AG und ihrer Leiterin vielversprechend – und so holten sie sich kurzerhand die Expertise von CC an die Schule.

Das Team von Creative Change bildete die AG-Mitglieder zu „Respect Coaches“ aus und entwickelte mit ihnen einen Workshop gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Mit diesem kann die ViFa AG nun zu präventiven Zwecken in die Klassen gehen: In drei kurzen Theaterstücken stellen die AG-Mitglieder typische Fälle von Ausgrenzung oder Diskriminierung nach und lassen dann die Klasse entscheiden, welchen Fall sie besprechen möchte: die Rollen von Opfer, Täter und Mitläufern und die Gründe für deren Verhalten. Schließlich wird die Szene nochmals gespielt – von der Klasse selbst, und zwar mit einem anderen Ausgang. „So sollen die Schülerinnen und Schüler für Ausgrenzung sensibilisiert und ermutigt werden, Zivilcourage zu zeigen“, sagt Naouaim Miladi.

Für die Ausbildungszeiten mit Creative Change – 2x2 und 1x4 Stunden – waren die AG-Mitglieder durch die Schulleitung vom Unterricht befreit. „Jenseits davon und über die Montagstermine haben die Schüler auch viel Freizeit in die Entwicklung der Workshops investiert – so wichtig war ihnen das Thema“, sagt Naouaim Miladi.

Um überzeugende Szenen zum Thema Mobbing zu finden, befragten die AG-Mitglieder den Vertrauenslehrer, welche Fälle er im Schulalltag schon erlebt hat. Sie forschten im Internet nach und tauschten mit der Lehrerin Ideen zur Umsetzung aus.

Premiere mit dem Anti-Mobbing-Workshops hatte die ViFa AG in einer 6. Klasse, wo bereits seit längerem Konflikte schwelten.

„Am Anfang kostete es mich Überwindung, vor Publikum aufzutreten und in eine Rolle zu schlüpfen, in der ich mich unwohl fühle. Aber die Idee, mit interaktivem Theater und einem moderierten Gespräch Konflikte zu lösen und bei Mobbing frühzeitig gegensteuern zu können, finde ich toll“, sagt die 18-jährige Marie Weil.

Auf dem letzten Treffen vor den Sommerferien zog die ViFa AG Bilanz und sammelte Ideen, wie sie den Workshop noch verbessern und an das Angebot an der Schule bekannter machen können. Dazu gehört auch, Berichte über die Arbeit der ViFa AG und die Exkursionen zum Demokratie-Tag und zum Jugendkongress zu schreiben. Diese sollen dann auf der Schul-Homepage als auch in der Lokalzeitung erscheinen. „Öffentlichkeitsarbeit gehört dazu, wenn man etwas erreichen will. Daher haben wir die Kooperation mit der Wetterauer Zeitung geschlossen und uns die Expertise eines Journalisten geholt“, sagt Lehrerin Miladi.

Wie schreibe ich für welche Zielgruppe? Welche Textsorten gibt es? Wie portioniere ich ein großes Thema in lesbare Texteinheiten? Zu diesen und anderen Fragen hat der WZ-Redakteur Siegfried Klingelhöfer bei einem Besuch den AG-Mitgliedern handwerkliche Tipps gegeben. „Für uns war es selbstverständlich, die Schülerinnen und Schüler bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. Jetzt warte ich gespannt auf die Artikel!“, sagt er.

Besonders über den Jugendkongress in Berlin wird es viel zu schreiben geben. Unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hatten sich im Mai 400 ehrenamtlich engagierte Jugendliche aus ganz Deutschland in Berlin getroffen, um Vorträge zu hören und zu diskutieren. Die 6-köpfige Delegation der Singbergschule wählte sich in Workshops zu Themen wie „Hate und Fake News“, „Antisemitismus früher und heute“, „Mit Rechten (sachlich) reden“ ein – und kehrte mit Aufbruch-stimmung nach Wölfersheim zurück.

„Alles, was ich auf dem Jugendkongress gehört und erlebt habe, hat mich in meinem Denken bestärkt: Es lohnt sich, sich einzumischen. Zivilcourage ist wichtig“, sagt Cem Sahin aus der 12. Klasse.

Auch deshalb wünscht sich die ViFa AG, dass die „Respekt-Coaches“ fest ins Schulprogramm aufgenommen werden und der Workshop bald auch in der Mittelstufe angeboten wird, abgestimmt auf typische Konfliktfelder dieser Altersgruppe. Und jenseits der Schule?

„Was ich in der Ausbildung zum Respekt-Coach gelernt habe, werde ich bestimmt auch in anderen schwierigen Situationen anwenden können“, sagt Bastian Böhm aus der 8. Klasse.

Lehrerin Miladi hat noch einen anderen Blick auf die Entwicklung und Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler, von denen sie die meisten zwar aus dem regulären Unterricht kannte, die sie in der AG aber überrascht haben – durch hohes Engagement, Verantwortungsbewusstsein und Selbstsicherheit.

„Die Stärken kamen in der AG, wo wir alle auf Augenhöhe agiert haben, viel besser raus als in der Klasse, wo es unterschiedliche Rollen gibt“, so Miladi.

Für Naomi Hain war die ViFa AG ein Anstoß für mehr: Sie engagiert sich mittlerweile in der Schülervertretung und bei Fridays for Future: „In der AG habe ich gelernt, dass man gemeinsam an einem Ziel arbeiten kann, auch wenn man sich nicht gut kennt.“

 

Text: Eva Keller