Im Rahmen eines Filmprojekts beschäftigen sich Jugendliche mit aktuellen politischen Diskussionen
Foto: DKJS/André Forner

Dieser Projektverbund in Erfurt zeigt, wie Erfahrungen und Lebenswelten nachhaltig und zukunftsorientiert für eine starke Demokratie miteinander verbunden werden.

Die Aula der Friedrich-Schiller-Schule in Erfurt ist am Vormittag des 29. Novembers gut besucht. Etwa 100 Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge acht bis zwölf sowie einige Mitglieder des Schutzbunds der Senioren und Vorruheständler Thüringen e.V. sind gekommen, um den Zeitzeugenbericht von Gerhard Laue zu erleben. Herr Laue ist gebürtiger Erfurter und blickt mit 90 Jahren auf seine Jugend in der Zeit des NS-Regimes zurück. Er berichtet über den inneren und äußeren Widerstand gegen Hitler und das diktatorische System. Mit seinem persönlichen Erfahrungsbericht will er den Alltag in einer Diktatur dokumentieren, um zu erreichen, dass sich die jüngeren Zuhörenden in diese Zeit zurückversetzt fühlen – „und letztlich niemand je wieder mit diesem oder einem ähnlichen ausgrenzenden System sympathisieren kann“, hofft Gerhard Laue zu Beginn seines Vortrags. Das Schweigen zu diesem Thema, dass sich in der älteren Generation zu häufig seinen Platz genommen hat, soll bei den jungen Schülerinnen und Schülern keine Chance bekommen. Die Generationen wollen in den Dialog treten, sich austauschen, voneinander lernen und wechselseitig Impulse für ein demokratisches Miteinander geben. Für dieses Ziel setzen sich die Kooperationspartner vom Seniorenschutzbund Erfurt gemeinsam mit Verantwortlichen der Schillerschule als Projektverbund „Alt und Jung gemeinsam für Courage und gegen Rassismus“ ein.

Freies Lernen durch Kooperation gestalten

Angelina, Hanna und Melissa gehen in die neunte Klasse der Friedrich-Schiller-Schule. Sie haben die Bewerbung mit dem Seniorenschutzbund als gemeinsames Projekt gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bei OPENION angestoßen, nachdem sie sich in ihren Seminararbeiten mit den Themen Rassismus, Antisemitismus und Feminismus auseinandergesetzt hatten. „Die älteren Leute haben das ja alles schonmal hautnah erlebt. Und heute breiten sich Rassismus und Antisemitismus wieder in der Gesellschaft aus. Wenn wir darüber reden und hören, was die Menschen erlebt haben, lernen wir auch was man dagegen tun kann“, erklärt Hanna. Den Seniorenschutzbund und dessen Mitglieder kannten sie schon von früheren gemeinsamen Aktionen und Veranstaltungen. Bereits seit über zehn Jahren arbeiten der Seniorenschutzbund und die Schillerschule zusammen. Was als vorsichtiges Zusammentreffen in Form eines Aktionstags begann, wurde über die Jahre zu einer verlässlichen Partnerschaft. Gemeinsam entwickeln die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler mit den ehrenamtlich Engagierten Formate und Veranstaltungen, die einen Austausch über die Themen Toleranz, Demokratie, Werteverständnis und Rassismus in Gegenwart und Vergangenheit ermöglichen.

„Demokratiebildung braucht vor allem Raum und Zeit. Das ist im Schulalltag allein gar nicht umzusetzen. Die Seniorinnen und Senioren haben diese Kapazitäten und investieren sie mit großer Bereitschaft in das Projekt“ freut sich Beate Wichmann, Religionslehrerin an der Schillerschule und Ansprechpartnerin für das Projekt.

Die Arbeitstreffen und Veranstaltungen finden u.a. auch innerhalb der Unterrichtszeit statt, obwohl das Projekt nicht fester Bestandteil eines Fachs ist. Möglich ist das, weil die Schillerschule nach dem Dalton-Plan arbeitet, einem offenen Konzept, das den Schülerinnen und Schülern mehr selbstbestimmte Gestaltungsmöglichkeiten des Lernens bietet. Nach dem Motto „Freiheit in Gebundenheit“ können die Schülerinnen und Schüler für zwei Schulstunden pro Tag vorab aus einem Angebot wählen, mit welchem Fach, Thema oder Inhalt sie sich in diesem Zeitraum auseinandersetzen möchten. Und so kommt es, dass an diesem Vormittag alle anwesenden Schülerinnen und Schüler freiwillig und aus eigenem Interesse in die Aula gekommen sind und nicht, weil es im Lehrplan vorgeschrieben wurde. Impulse werden jedoch auch im Unterricht gesetzt: Die Achtklässler lesen zur Zeit im Deutschunterricht einen Comic von Karl Metzner, einem der lokalen Widerstandsleistenden, über den auch Herr Laue sprach, und in den höheren Jahrgängen wird aktuell das Thema Populismus bearbeitet.

„Wir wollen eine Schule ohne Rassismus werden und dafür muss man sich mit unterschiedlichen Aspekten dieses Themas beschäftigen“ finden die Schülerinnen.

 

Vom zivilen Widerstand zur Zivilcourage

Den Organisatoren und Teilnehmenden ist es wichtig, dass nicht nur zeitgeschichtliches Lernen stattfindet, sondern die Bezüge zwischen gestern, heute und morgen erkennbar gemacht und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Der Zeitzeugenbericht an diesem Nachmittag bietet dazu einige Anhaltspunkte, z.B. lernen die Schülerinnen und Schüler die lokalen Erinnerungsorte Erfurts kennen. Hier vor der Haustür, an Orten, an denen die Menschen heute scheinbar sorglos und viele unwissend vorbeigehen, fanden Bücherverbrennungen statt, rassistische und antisemitische Mobs zogen durch die Straßen und das Gebäude des heutigen Landtags – ein Ort der Demokratie ­–  war früher das Gefängnis, in dem auch die erwähnten Widerstandskämpfer einsitzen mussten. „Damals hieß Zivilcourage zeigen, die Todesstrafe zu riskieren“ sagt Gerhard Laue und erzählt, wie sein damaliger Klassenlehrer ihn, der wegen vermeintlicher Mitwisserschaft über die Verteilung illegaler Flugblätter von der Schule suspendiert wurde, zuhause weiter unterrichtete. Natürlich im Geheimen, um nicht seinen Job oder mehr zu verlieren. Rüdiger Bender, Vorsitzender des Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne und Moderator der Veranstaltung, zieht den Bogen: „Der Lehrer damals hat trotz der schweren Umstände Haltung gezeigt und sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten positioniert. Das zeigt uns: Man hat immer eine Wahl, auch wenn es schwer ist!“. Den Schülerinnen und Schülern dies als Bestandteil einer streitbaren Demokratie zu vermitteln, ist auch ein großes Anliegen des Seniorenschutzbundes. Denn vor dem Hintergrund, dass die meisten der älteren Generation in Erfurt nicht nur ein geteiltes Deutschland, sondern auch zwei Diktaturen miterlebt haben, kennen sie die Hürden für demokratisches Handeln aus eigener Erfahrung. „Freie Meinungsäußerung und eine Gesellschaft zum Vorteil aller, nicht Einzelner“, das versteht Rita Hofmann, Ansprechpartnerin des Kompetenz- und Beratungszentrums im Seniorenschutzbund, daher zuerst unter dem Begriff Demokratie. Aber demokratisches Handeln heißt für sie auch, sich im Kleinen, im Alltag und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu engagieren und sich gegenseitig zu helfen.

„Demokratie braucht lokale Aktionen und Taten und wir SeniorInnen, wir leben das mit unserem Engagement vor.“

 

Der Dialog als zeitgemäße Methode der Demokratiebildung?

Nach dem knapp zweistündigen Zeitzeugenbericht inklusive anschließenden Fragen, bleiben einige Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgängen neun bis zwölf in der Aula, um gemeinsam mit Herrn Laue und den anwesenden Mitgliedern des Seniorenschutzbundes zu reflektieren und zu diskutieren. In Kleingruppen sitzen sie zusammen, stellen Fragen, hören zu und bewerten kritisch. Wie zeitgemäß und anschlussfähig ist diese Methode der Demokratiebildung? „Sie ist eher klassisch, aber in unserer Zusammenarbeit absolut passend und vor allem wirksam“ hält Beate Wichmann fest. „Wir haben und kennen ausreichend Methoden, gerade für die Gestaltung des Unterrichts. Aber die Rückbesinnung auf den klassischen Dialog schafft die Verbindung zwischen den Generationen“. Und das wird an diesem Nachmittag auch deutlich. In den Gesprächsrunden werden automatisch viele Aspekte des Schwerpunktthemas Rassismus aufgegriffen, indem eigene Erfahrungen ausgetauscht werden. Hier treffen z.B. Schülerin und Seniorin aufeinander, beide mit Migrations- bzw. Fluchterfahrungen und diskutieren die heutige Flüchtlingspolitik. Oder Schüler berichten über stärkere Diskriminierung im ländlichen Raum und stellen zur Diskussion, ob die ältere Generation dort weniger offen und tolerant ist, als im Stadtgebiet. Die Anwesenden zeigen, dass in den Dialog zu treten Kompromissbereitschaft bedeutet, denn sie lassen sich auf die Meinung anderer ein. „Eine gute Gesprächs- und Diskussionskultur zu entwickeln ist auch Bestandteil von Demokratiebildung“, so Wichmann. In den letzten Jahren hätten sich die Familienstrukturen dahingehend geändert, dass gemeinsame Zeit zum Austausch kaum noch vorhanden oder schlichtweg nicht genutzt werde. Der Bedarf und das Interesse daran ist zu spüren, denn die Gespräche brauchen kaum Anleitung und entwickeln sich thematisch immer weiter, von parteipolitischen Ansichten über Missstände der Arbeitsmarktsituation und Lebenswirklichkeiten in Zeiten der DDR. Die Jugendlichen suchen den Austausch, aber auch die ältere Generation kommt in richtige Redebegeisterung.

„Manchmal bin ich ganz erstaunt, wie offen unsere Senioren den jungen Leuten hier alles erzählen. So habe ich einige vorher noch nie erlebt“ freut sich Rita Hofmann über die angeregten Gespräche.

 

Demokratiebildung ist keine Einbahnstraße

Die jeweils andere Generation kennenzulernen, heißt sie verstehen zu lernen. Und auch voneinander zu profitieren. Nach der Wende sind viele Menschen aus Erfurt in den Westen gegangen, meistens die jüngere Generation. Viele der Seniorinnen und Senioren des Schutzbundes haben ihre Töchter, Söhne und Enkelkinder in anderen Städten, viele auch in anderen Ländern. Der Kontakt zu Jugendlichen muss heute also über „fremde“, nicht familiäre Beziehungen entstehen. Viele der Schülerinnen und Schüler hatten früher wenig Berührungspunkte mit der älteren Generation und häufig das Bild vom „klapprigen Rentner“ vor Augen, erzählt Rita Hoffmann. Die Zusammenarbeit mit dem Seniorenschutzbund habe ihnen ein ganz neues Bild vermittelt.

„Wir halten unsere Leute fit“, sagt sie. „Unsere Mitglieder betätigen sich ganz unterschiedlich, ob beim Sport oder in kulturellen Bereichen. Sie wollen aktiv sein und bleiben. Das ist natürlich für sie persönlich ein wichtiges Ziel, aber mit Blick auf den demografischen Wandel ist das auch wichtig für unsere Gesellschaft“.

In der Gesprächsrunde nutzen die Jugendlichen die Gelegenheit, nicht nur zeitgeschichtliche Fragen zu stellen, sondern auch persönliche, die sie ihren eigenen Großeltern nicht stellen können oder würden, erzählt ein Schüler. Zum Beispiel „Was hat sie damals an Hitler interessiert?“, „Wie war das denn, als die Mauer gebaut wurde?“, „Welche Partei haben Sie bei der letzten Wahl gewählt?“. An dieser Stelle zeigt sich dann auch, dass Demokratiebildung durchaus eine wechselseitige Aufgabe ist. „Ich gehe schon seit Jahren nicht mehr zur Wahl. Und das werde ich auch in Zukunft nicht“, gibt ein Senior in der Diskussion zu. Für Hanna und Angelina ist das absolut nicht nachvollziehbar. „Ich finde, wer hier lebt und das Recht zu wählen hat, der sollte das auch machen. Sonst kann man ja auch nichts ändern“, erklärt Angelina. Sie werde auf jeden Fall zur Wahl gehen, sobald sie alt genug ist, sagt die Neuntklässlerin. Im Dezember beginnt sie aber erstmal ein Praktikum beim Seniorenschutzbund.

 

 

Text: Maria Obermeyer