„Kamera eins, Kamera zwei, Ton, bereit? Take ‚Lehrerchen‘, die Dritte!“. Mit einem energischen Knallen der Synchronklappe gibt Liliana das Startzeichen für die Aufnahme der nächsten Szene. Im Klassenraum in der ersten Etage des Paulsen Gymnasiums in Berlin-Steglitz herrscht konzentrierte Stille. David sitzt auf einem Stuhl vor dem Greenscreen, über ihm die Tonangel mit dem Mikrofon, den Blick Richtung Kamera spricht er erneut seinen Text ein: „Das sind die Gründe, warum ich das Schulsystem kritisiere. Was halten Sie davon?“. Cut – diesmal klappt’s und die Szene mit dem provakanten Schluss ist im Kasten. Die Schülerinnen und Schüler der Politik AG drehen an diesem Nachmittag Szenen für ihr Projekt. Unter dem Titel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ entwickeln sie einen Film, in dem sie deutlich machen, wie aktuelle politische Themen und Diskussionen auf sie wirken, welche Veränderungen sie sich wünschen und wie sie an diesen Veränderungen teilhaben wollen. Den fertigen Film überreichen sie persönlich an ausgewählte Politikerinnen und Politiker mit der Aufforderung, dass diese zu ihren Fragen und Forderungen Stellung nehmen.
In den vergangenen Wochen traf sich die Gruppe jeden Dienstagnachmittag. Am Anfang war der Zulauf für die offene AG ziemlich gering.
„In der ersten Woche waren nur Lisa und ich hier“ lacht Nico Hartung, Lehrer und Leiter des Projekts. „Vielleicht war den Schülerinnen und Schülern nicht ganz klar, was wir hier vorhaben. Aber dann hat sich rumgesprochen, dass sie mit dem Projekt die Möglichkeit bekommen, die Themen zu diskutieren, die sie wirklich interessieren und sich dafür auch Gehör verschaffen zu können.“
Heute sind neun Jugendliche aus den Jahrgängen neun bis zwölf zum AG-Treffen gekommen. Aber es werden immer noch mehr, denn das Projekt bleibt über die gesamte Laufzeit ein offenes Angebot für alle am Paulsen Gymnasium, die sich für Politik interessieren. „Bisher gab es an unserer Schule keine Projekte oder Arbeitsgruppen, in denen man sich politisch engagieren konnte“, erzählt Lisa. Deshalb war die 13-Jährige sofort entschlossen teilzunehmen, als sie durch einen Aushang in der Schule auf das Projekt aufmerksam wurde. Auch Jakob ist auf diesem Weg zur AG gekommen. Der Zwölftklässler hat Politik als Leistungskurs gewählt und wie einige andere in der Gruppe bereits ein gutes Fachwissen.
„Die unterschiedlichen Wissensstände waren hier kein Problem. Es geht ja darum, dass man eine eigene Sichtweise und Meinung zu bestimmten Themen entwickelt. Natürlich braucht man dafür auch genug Informationen und etwas Hintergrundwissen. Das haben wir dann bei Bedarf zusammen mit Herrn Hartung recherchiert, sodass dann alle auf dem gleichen Stand waren“, erklärt er.
Jugendthemen der Politik oder politische Themen der Jugend?
Das Projekt soll den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, sich mit politischem Zeitgeschehen auseinanderzusetzen und dabei die Themen aufzugreifen, die für sie selbst relevant sind.
„Ich habe der Gruppe am Anfang des Projekts eine Liste von Themen mitgebracht, die in der Politik als Jugendthemen aufgefasst werden und sie gefragt, was sie darüber denken. Einige Sachen fielen sofort weg, es gab für sie gar keinen relevanten Bezug. Andere Themen fanden sie spannend und hatten sofort Ideen oder Kritik dazu“, beschreibt Nico Hartung die Einstiegsphase des Projekts.
Aus diesen Impulsen entwickelten die Schülerinnen und Schüler selbständig Fragestellungen, z.B. zum bedingungslosen Grundeinkommen. Sie recherchierten zu dem Thema, sammelten die Vor- und Nachteile und diskutierten die unterschiedlichen Positionen.„Wir haben auch die Grundlagen des Argumentierens besprochen und geübt, damit alle die gleichen Möglichkeiten haben, ihren Standpunkt und ihre Argumente adäquat zu vertreten“ so Hartung weiter. Aus den Themen filterten die Jugendlichen letztlich drei heraus, an denen sie schwerpunktmäßig weiterarbeiten wollten: Digitalisierung und Smartphones an der Schule, Gender und Sexismus sowie zum Bildungssystem.
Aufforderung zur Perspektivübernahme
Das Filmprojekt fördert und fordert die Fähigkeit und Umsetzung zur Perspektivübernahme. Die Schülerinnen und Schüler reflektieren unterschiedliche Argumente und weisen auf spürbare Unzulänglichkeiten in für sie relevanten Bereiche hin und die Politik wird aufgefordert, sich den Fragen unter diesem Blickwinkel zu stellen. Den Jugendlichen macht es spürbar Spaß an einem Filmprojekt zu arbeiten, bei dem sie das Zepter in der Hand haben, frei und kreativ ihre Ideen umsetzen und Meinungen diskutieren können. „Die Lehrkräfte sind überfordert mit so großen Klassen! - Sind die Lehrer zu alt oder die Medien zu neu? – Dreizehn Jahre zur Schule gehen ist zu lang, G8 hat auch etwas Gutes.“ Die Schülerinnen und Schüler finden Vor- und Nachteile zu allen Themen. Aber das reicht nicht aus, um den Kern des Projekts umzusetzen.
„Wir können nicht einfach nur sagen, dies und das finden wir schlecht und das soll jetzt geändert werden. Wir brauchen Argumente und müssen daraus eine politische Forderung formulieren“ erinnert Nico Hartung die Gruppe zwischendurch.
Und dann fordern sie: Lehrermangel bekämpfen! Medienkompetenz in der Schule fördern! Bessere Vergleichbarkeit von Abschlüssen auf Bundesebene! Manchmal ist es gar nicht so einfach, die Unzufriedenheit in konkrete Forderungen zu übersetzen: „Das Bildungssystem ist nicht gut, so wie es ist. Aber es gibt kein schlechteres, deswegen ist es gerade schwer das zu formulieren“. Die Schülerinnen und Schüler entscheiden sich, die Perspektiven aller Beteiligten einzubringen und so auf die verzwickte Situation aufmerksam zu machen. Mithilfe des Greenscreens entsteht im Film eine „Engelchen-und-Teufelchen“-Sequenz: Auf Davids linker Schulter erscheint „Lehrerchen“ und schildert ihm die Probleme der Lehrkräfte, auf der rechten vertritt „Schülerchen“ die Ansichten der Jugendlichen. Am Ende bleibt die Frage an die Politikerinnen und Politiker: Was halten Sie davon?
Demokratisch auch zwischen den Takes
Vom Justieren der Kamera, dem Einstellen des Tons bis zur Regie am Set – die Schülerinnen und Schüler harmonieren bei den einzelnen Arbeitsschritten und wachsen beim Dreh zu einer richtigen Filmcrew zusammen. Jeder Einzelne bekommt eine Aufgabe, die die Gruppe selbst untereinander aufteilt. Und die immer wechseln kann: erst schreibt Antonin am Dialog, beim Dreh ist er verantwortlich für den Ton und schlüpft dann auch noch für ein paar Szenen in eine Rolle vor der Kamera. Kein Wunder, dass es da bei einigen auch mal zu kurzen Texthängern kommt. Aber auch nach dem vierten Versuch bleibt das Team entspannt. „Lasst uns den Satz doch ändern, dann ist es vielleicht einfacher zu merken“, schlägt Lennart vor und lässt die Gruppe über zwei Alternativen abstimmen. Ebenso werden Ideen zur szenischen Umsetzung in der Gruppe diskutiert und mehrheitlich beschlossen. Ein Demokratieprojekt ist nun mal nichts für Einzelkämpfer.