Schüler des Wittelsbacher-Gymnasiums in München konzipieren eine App über die NSU-Verbrechen / Foto: Robert Hofmann
Foto: Robert Hofmann

Münchener Schülerinnen und Schüler arbeiten rechtsextreme Verbrechen in ihrer Stadt digital auf

Das Projekt „History Reclaimed – Digitale Stadtrundgänge“ lässt Schülerinnen und Schüler einen Stadtrundgang durch München entwickeln. Den sollen später alle Interessierten mit Hilfe einer App selbst machen können. Die Jugendlichen gehen dabei an die Orte, an denen der Rechtsextremismus in ihrer Stadt greifbar wird – sie treten ein gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen der Neonazis.

Vor einem blutroten Gebäude stehen etwa 20 Jugendliche und hören einem jungen Mann mit freundlichen Augen zu. Dieser Mann ist Timm Baumann von der Georg-von-Vollmar-Akademie. Zusammen mit OPENION organisiert er das Projekt „History Reclaimed – Digitale Stadtrundgänge“. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler der 10c des Wittelsbacher-Gymnasiums selbstständig über die Verbrechen der Terrorgruppe des Nationalsozialistischen Untergrunds. Und sie bereiten die gewonnen Informationen so auf, dass Interessierte sie nutzen können.

Es ist ein Donnerstagmorgen Ende Juli 2019, der Donnerstag vor den Ferien und es ist heiß. 34 Grad soll es heute werden. Timm Baumann steht vor der Gedenktafel für eines der Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Er erzählt die Geschichte von Theodoros Boulgarides, einem Deutschen mit griechischen Wurzeln, der erst wenige Tage vor seinem Tod einen Schlüsseldienst an dieser Stelle eröffnet hatte. Und er erzählt von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die ihn am 15. Juni 2005 in seinem Laden mit einer Pistole erschossen.

Das Projekt „History Reclaimed – Digitale Stadtrundgänge“ verbindet modernste Technologie mit klassischer Didaktik. Die Schülerinnen und Schüler entwerfen gemeinsam eine App. Diese können geschichtsinteressierte Menschen auf ihr Handy herunterladen und dann mit ihr einen interaktiven Stadtrundgang machen. Die App führt an die Orte, an denen der NSU Verbrechen begangen hat oder an denen Dinge geschehen sind, die mit der Terrorgruppe zu tun hatten. Doch nicht nur das. Sie führt auch an Orte, die helfen, den Nationalsozialismus zu verstehen. Und zu entlarven.

Das Projekt soll die Vorliebe der Jugendlichen aufgreifen. Es akzeptiert, dass diese sich vornehmlich im digitalen Raum Zuhause fühlen. Genau dort sollen sie abgeholt werden. „Wir wollen die Jugendlichen nicht mit Informationen überfluten, aber sie ihnen zugänglich machen“, sagt Baumann. „Ich bin mir sicher, dass das Projekt dazu führen wird, dass der ein oder andere Schüler sich noch mehr für Gesellschaftspolitik interessieren wird und gegebenenfalls auch kritisch zu reflektieren weiß. Und wenn wir das erreichen, haben wir unser Ziel erfüllt.“

„Das Wichtigste für uns ist es, menschenverachtenden Einstellungen den Riegel vorzuschieben. Wir wollen dabei gar nicht zu konkret werden, nicht die einzelnen rechten Parteien beleuchten. Maßgeblich für uns ist es, die Ideologie dahinter zu zeigen. Damit die Jugendlichen wissen, worum es dabei eigentlich geht und warum man etwas gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit tun sollte.“ Timm Baumann

Der Ort, an dem die Jugendlichen an diesem Morgen stehen, wird später eine von vier Stationen der App werden. Jede Station wird von einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern betreut. Die schreiben einen kurzen Informationstext dazu, schießen Fotos und entwerfen ein Quiz. So soll der Rundgang mit der App nicht nur lehrreich sein, sondern auch unterhalten. „Was die Schüler machen, wie sie den Text gestalten, die Bildsprache – das ist alles ihnen überlassen“, sagt Baumann.

Die Schülerinnen und Schüler schreiben sich den Text der Gedenktafel ab. Schon vor dem Besuch heute haben sie recherchiert, was hier passiert ist. Sie haben Zeitungsartikel ausgeschnitten und gesammelt, Wikipedia-Artikel gelesen und hören Baumann bis zum Schluss seines Vortrags interessiert zu.

Zwei Tage zuvor stehen die Jugendlichen im NS-Dokumentationszentrum. Hier sollen sie erfahren, was die Ideologie hinter dem Nationalsozialismus bedeutet. Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus – Chauvinismus jeder Couleur. Es sind viele -ismen, die ihnen hier auf modernen Bildschirmen präsentiert werden. Sie kennen nicht alle: „Was ist Sozialdarwinismus“, fragt ein Schüler. Ein Tourguide erklärt es ihm: „Die Idee, dass Menschen nicht alle gleich viel Wert sind und einige deshalb schlechter behandelt werden dürfen als andere. Das hat viele Handlungen der Nazis legitimiert.“ Der Schüler nickt. Auch das wird in die App einfließen.

Denn bei der Arbeit der Schülerinnen und Schüler an der App geht es um mehr, als die Erinnerung an den NSU wachzuhalten. Es geht darum, den Jugendlichen und später allen, die die App nutzen, zu zeigen, was Rechtsextremismus ist und was er anrichten kann. Es geht darum, dass die Jugendlichen lernen, wie wichtig eine pluralistische Gesellschaft ist und wie wichtig es ist, dass eine demokratische Überzeugung die Grundlage des Zusammenlebens bildet. Der NSU wird so zum Extrembeispiel: So etwas machen Leute, die rechtsextrem denken und handeln.

Der Tatort ist der vorletzte Programmpunkt des Projekts. Vorher trafen die Schülerinnen und Schüler Tom Sundermann, den Gerichtsreporter, der für Zeit Online den NSU-Prozess begleitet hat. Sie haben das NS-Dokumentationszentrum besichtigt, den Platz der Opfer des Nationalsozialismus und das Gebäude der BayernLB, wo einst das „Haus des Schreckens“ stand, das Gestapo-Gefängnis. Nach dem Tatort ziehen die Jugendlichen weiter zum Strafjustizzentrum, wo der NSU-Prozess stattfand.

Der Besuch des NS-Dokumentationszentrums, der Vortrag Tom Sundermanns, die Arbeitszeit von Timm Baumann, Referierende und Fahrtkosten – all das kostet Geld. Die Georg-von-Vollmar-Akademie könnte das nicht alleine stemmen. „Ich bin OPENION und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung sehr dankbar dafür, dass sie das Projekt unterstützen“, sagt Baumann. „History Reclaimed“ liegt ihm am Herzen. Die Georg-von-Vollmar-Akademie organisiert neben Veranstaltungen zur Erwachsenenbildung auch Projekte für Heranwachsende. Gespräche mit Zeitzeugen des Nationalsozialismus oder mit Geflüchteten.

Hinzu kommen Pilotprojekte wie das, weswegen Baumann heute hier steht. „History Reclaimed“ ist nicht in München entstanden, sondern in Köln, wo der NSU ebenfalls Anschläge verübt hat. Anschließend wurde das Projekt in anderen Städten wiederholt.

Kennengelernt hat Baumann das Projekt auf einer Veranstaltung von OPENION. Hier wurden mehrere Projekte aus unterschiedlichen Richtungen präsentiert. Baumann war schnell fasziniert von dem Konzept dahinter. „Im Frühling 2018 war ich auf der OPENION-Bildungsmesse in München/Bogenhausen. Dort wurden für allerlei Bildungsträger jede Menge spannende politische Bildungsprojekte mit Jugendlichen vorgestellt. Aufgrund unserer vielen Seminare, Podiumsdiskussionen und Theaterstücke mit NSU-Bezug war besonders das NSU-History Reclaimed Projekt aus Köln und Kassel ein absoluter Eye-Catcher für mich. OPENION hat dann wunderbar vermittelt und ist uns mit jeder Menge Engagement zur Seite gestanden. Der Verein La Talpa e.V. aus Köln war wichtiger Impulsgeber beim ersten gemeinsamen Schultreffen und unterstützt uns in der technischen Umsetzung."

Baumann hat sich dafür eingesetzt, das Projekt auch in München umsetzen zu können. „In anderen Städten, in denen der NSU Anschläge verübt hat, gab es das schon. Es gehört zu unserem Leitbild, Rechtsextremismus- und Rassismusprävention zu betreiben. Es ist uns ein Anliegen, daran zu erinnern, was passiert ist. Und wir wollen, dass Geschichte nicht nur Geschichte bleibt. Wir wollen den Gegenwartsbezug herausstellen. Und wir wollen in einer toleranten, offenen, bunten Gesellschaft leben und mit unseren Projekten ein Gewissen für demokratische Werte herstellen und da ansetzen, wo der leider viel zu defizitär ausgestattete Sozialkundeunterricht in Bayern keine Kapazitäten hat.“

Vor der Gedenktafel für Theodoros Boulgarides fragt Timm Baumann die Jugendlichen: „Welche Frage fällt euch ein, wenn ihr hört, dass die beiden Mörder sich in München nicht auskannten und dass Boulgarides erst wenige Tage vor seinem schrecklichen Tod seinen Laden eröffnet hatte?“ Einer meldet sich: „Woher wussten die Nazis von Boulgarides?“, sagt er. „Jemand muss denen doch einen Tipp gegeben haben.“ - „Genau“, sagt Baumann. „Der Verdacht ist weiterhin sehr naheliegend, dass der NSU auch in München Späher und Unterstützer hatte.”

„Dadurch, dass man den Rundgang machen kann, geraten die Morde nicht in Vergessenheit. Und nicht nur wir erinnern uns daran, sondern auch andere. Denn man sollte immer im Kopf haben, dass es den Rechtsextremismus noch gibt und dass man dagegen kämpfen und sich immer dagegen aussprechen sollte“, sagt Schülerin Stella Gräfin Eckbrecht von Dürckheim-Montmartin.

Der Ansatz, den Schülerinnen und Schülern die Verantwortung in die Hand zu geben, selbst zu entscheiden, was in die App aufgenommen werden soll und was nicht, motiviert sie. Sobald die App online geht, wird es ihr Projekt sein. Sie werden die App runterladen können und sagen: „Das habe ich erstellt. Und es wird Menschen geben, die meinetwegen durch München laufen und meine Texte lesen, meine Fotos anschauen und meine Quizfragen beantworten.”

Dass ein Projekt die Lebensrealität der Jugendlichen nicht nur anerkennt, sondern aktiv nutzt, ist innovativ und dringend nötig. Rechtes bis hin zu rechtsradikalem Gedankengut wird in Deutschland, in Europa wieder hoffähig. Tabus werden gebrochen, Parteien im Bundestag scheuen nicht davor zurück, die Zeit des Nationalsozialismus zu verharmlosen. Ein Projekt wie „History Reclaimed“ zeigt den jungen Menschen, was es eigentlich bedeutet, wenn der Nationalsozialismus „Fliegenschiss“ genannt wird. Was es bedeutet, wenn die demokratischen Grundwerte einer Gesellschaft erodieren. Und wenn Minderheitenrechte peu a peu aufgehoben werden.

Regina Schlemmer steht neben Baumann. Sie ist die Sozialkundelehrerin der Schülerinnen und Schüler der 10c. Sie freut sich über das Engagement der Jugendlichen. Es sei ja Notenschluss. Sie habe keine Handhabe mehr. Dass die Jugendlichen heute überhaupt hier seien, sei weitgehend freiwillig, sagt sie. Sie habe sich sehr gefreut, als die Georg-von-Vollmar-Akademie das Angebot an das Wittelsbacher-Gymnasium geschickt habe. Sie sei immer auf der Suche nach Projekten, mit denen man den Jugendlichen die Bedeutung von Demokratie vermitteln könne, ohne dabei zu stark an den Lehrplan gebunden zu sein.

„Der Kampf für demokratisches Denken liegt mir am Herzen. In Bayern kommt der Sozialkundeunterricht oft zu kurz. Maximal zwei Stunden pro Woche haben die Schülerinnen und Schüler. Da kommt man selten über Systemlehre hinaus, für Politik- und Gesellschaftslehre bleibt kaum noch Zeit. Umso schöner ist es, dass dieses Projekt es schafft, die Jugendlichen über die Schule hinaus für Politik zu interessieren. Sie werden hier in ihrer Lebenswirklichkeit abgeholt. Und wenn ich so in die Gesichter schaue: Viele haben wir schon erreicht.“ Regina Schlemmer

Der aktivierende Ansatz zwingt die Schülerinnen und Schüler, sich kreativ mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es reicht nicht, nur zuzuhören. Sie müssen selbst überlegen, was besonders spannend sein könnte, was andere interessieren könnte und welche Informationen wichtiger sind als andere. So entwickeln sie, ganz nebenbei, bereits Argumentationsmuster gegen Rechtsextremismus und lernen, wie man Menschen das Thema am besten nahebringt.

Ihre Ergebnisse fassen die Schülerinnen und Schüler am Ende des Schultages zusammen. Zurück in der Schule sucht sich die Gruppe einen Klassenraum. Noch ein letztes Mal an diesem Donnerstag müssen die Jugendlichen sich nun konzentrieren. Sie setzen sich in ihren vier Gruppen zusammen und entscheiden gemeinsam, welche Infos in die App kommen, welche Fragen in das Quiz und welche Fotos das ganze bebildern sollen. Es wird laut, die Gruppen diskutieren. Eine streitet über die genauen Daten des NSU-Prozess, eine andere über die Schreibweise von Beate Zschäpe. „S-C-H“ - „Nein! T-SCH-Ä“ - „Nein! Mit Z am Anfang!“.

„Ich glaube, dass wir die Leute aufklären können durch das, was wir hier machen. Gerade jüngere Menschen, die sich vom Geschichtsbuch nicht begeistern lassen. Durch die Verbindung von Digitalem und der Außenwelt schaffen wir es, diese Leute für das Thema zu interessieren. Ich jedenfalls finde es spannend, herauszufinden, was da passiert ist. Und ich überlege auch, mich vielleicht in Zukunft politisch mehr zu engagieren“, sagt Schüler Thomas Zimmer.

Als der Gong ertönt, der das Ende des Schultages bedeutet, brechen die Jugendlichen auf. Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden sie Timm Baumann in den nächsten Wochen zuschicken. Er wird sie in die App einpflegen. Dann wird jeder, der sich dafür interessiert, einen Stadtrundgang durch München machen können. Jeder wird lernen, was der NSU war, was er getan hat und was Rechtsextremismus in seiner schlimmsten Form bedeutet. Und all das wird die 10c des Wittelsbacher-Gymnasiums entworfen haben.

 

Text: Robert Hofmann