Spielerisch Demokratie erproben können Jugendliche ab zwölf Jahren mit dem Computerspiel „Utopolis – Aufbruch der Tiere“. In der Rolle von Waldtieren kämpfen sie gemeinsam ums Überleben und lernen dabei die demokratischen Grundregeln einer Gesellschaft.
von Kathleen Fietz
Wer die saftig grüne Welt „Utopolis“ betreten möchte, muss sich entscheiden, ob als Wolf, Spinne, Wildschwein, Eichhörnchen oder als Hirschkäfer. Jedes dieser Tiere kann etwas anderes besonders gut. Das Eichhörnchen ist ein guter Sammler, der Käfer handwerklich besonders geschickt, und die Spinne kann geheimnisvolle Tränke mischen. Menschen gibt es nicht in „Utopolis“, nur die Gemeinschaft der Tiere, die gegen das Böse – ein rotes Leuchten – kämpft. Ein Kampf, der nur zusammen zu gewinnen ist.
„Utopolis – Aufbruch der Tiere“ ist ein digitales, kooperativ angelegtes Spiel, das politisches Interesse wecken will. Die Spielerinnen und Spieler sollen eine eigene Haltung entwickeln und Kompromisse aushandeln, denn wie im richtigen Leben gibt es auch hier ein Spannungsverhältnis zwischen individuellen Zielen und den Interessen der Gemeinschaft. Der spielerische Zugang zu demokratischen Prozessen soll vor allem Jugendliche ansprechen – ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger. „Wir haben bewusst auf den Begriff Demokratie im Titel verzichtet“, erklärt Silke Zimmermann, Programmleiterin der Nemetschek Stiftung, die das Spiel 2015 gemeinsam mit dem Studio Reality Twist entwickelte.
Nur gemeinsam als Gruppe überleben
Das rote Leuchten bedroht die Tiere so, dass sie sich auf den Weg ins ferne „Utopolis“ machen müssen, denn nur dort sind sie sicher. Die gefährliche Reise stellt die Waldgemeinschaft vor große Herausforderungen. 15 oder 25 Spielerinnen und Spieler können jeweils gemeinsam ums Überleben kämpfen. Einzige Bedingung: Sie benötigen dafür ein eigenes Smartphone oder Tablet. Das Spiel besteht aus verschiedenen Levels, die wiederum bestehen aus Runden, in jeder muss die Gruppe eine bestimmte Aufgabe erfüllen, zum Beispiel gemeinsam einen Planwagen bauen, um dem gefährlichen Leuchten entfliehen zu können. Es müssen Nahrungsmittel gesammelt, Rohstoffe getauscht und Werkzeuge gebaut werden. Dabei müssen nicht alle zur gleichen Zeit online sein, eine Runde kann zum Beispiel zwölf Stunden dauern, und jeder macht seine Spielzüge, wenn es zeitlich passt. Erreicht die Gruppe das nächste Level jedoch nicht, scheitert sie und hat das Spiel verloren. „Wir haben immer wieder gesehen, wie das Scheitern die Spielerinnen und Spieler dazu motiviert hat, die Gemeinschaft beim nächsten Versuch durch bessere Absprachen und mehr Kommunikation im Spiel weiter voranzubringen“, erzählt Silke Zimmermann. Ein Schüler sagte dazu: „Am besten gefallen hat mir, dass wir alle zusammenarbeiten mussten, um das Levelziel zu erreichen.“
Die Waldtiere können nur überleben, wenn sie sich zusammentun und gemeinsam Entscheidungen treffen. Wer soll Nahrung sammeln? Wer Gegenstände herstellen? Soll es einen, mehrere oder keinen Anführer geben? Über Fragen wie diese muss demokratisch abgestimmt werden. Dafür kann jede Spielerin und jeder Spieler aus Vorlagen eigene Gesetzesentwürfe formulieren und einbringen. Hier wird schnell klar: Um jemanden von seiner Idee zu überzeugen, braucht man eine klare eigene Haltung. Und nur wer sich aktiv einbringt, kann die Gemeinschaft und ihr Zusammenleben mitgestalten. Da eine einfache Mehrheit genügt, kann auch ein Einzelner zum Diktator werden, sollten die anderen nicht abstimmen. Das eigene Tun setzt damit politische Prozesse in Gang. Interaktiv können die Jugendlichen so ihre Selbstwirksamkeit erleben.
Lebensnah Demokratie erproben
Wie in echten demokratischen Gesellschaften können Bösewichte nicht einfach rausgeworfen werden, sondern es müssen Aushandlungsprozesse stattfinden und Kompromisse gefunden werden. Wer ein Gesetz vorschlägt und durchbringen will, muss die anderen überzeugen. Die Kommunikation ist das A und O im Spiel; ein gutes Zusammenleben kann nur in der Auseinandersetzung mit anderen gelingen. In speziellen Chatrooms kann man Einzelne oder ganze Gruppen einladen, um zum Beispiel darüber zu diskutieren, ob ein sogenanntes Transparenzgesetz eingeführt werden soll. Dieses regelt, dass alle einsehen können, was jeder besitzt und was sie oder er gerade tut. „Viele Spieler haben sich für dieses Gesetz entschieden, weil es praktisch ist und man so besser planen kann. Beim Spielen haben aber dann auch einige entdeckt, wie zwiespältig so eine Transparenz ist und welche Nachteile es hat, ständig überwacht zu werden“, erzählt Dr. Ralf Nemetschek, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung.
Das Spiel ist mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem 2015 mit dem Deutschen Computerspielpreis. „Der unkomplizierte Zugang und die Anknüpfung an für Rollenspiele und Browsergames übliche Konventionen sorgt für eine lebensweltliche Einbettung sonst oft als fremd empfundener politischer und moralisch-ethischer Inhalte“, lautete die Begründung Jury. Das Spiel konnte bis Anfang 2017 einfach bei iTunes oder im App Store heruntergeladen werden und war für jeden kostenlos zugänglich. Das App-Projekt war von Anfang an nur für zwei Jahre festgelegt, eine ständige Erneuerung auf die sich schnell weiterentwickelnden Endgeräte würde die Kapazitäten der Stiftung sprengen.
Digitales Lernen weckt Interesse für politische Diskurse
„Utopolis“ hatte bereits nach kurzer Zeit eine richtige Fangemeinde, bis zu 30 Mal haben es einige gespielt. Da es sich so gut für die politische Bildung von Jugendlichen eignet, sprachen die Macher nach dem ersten Jahr gezielt Lehrkräfte an und stellten das Spiel in ganz Deutschland auf medienpädagogischen Tagungen, in Ministerien und auf der Didacta vor. Für Lehrkräfte wurden ein erklärendes Tutorial und Materialien für den Unterricht entwickelt. Dazu gehörten zum Beispiel pädagogische Arbeitsblätter mit vertiefenden Fragen und Anregungen für die Reflexion von Themen wie Solidarität, Diskriminierung, Gerechtigkeit, Identität, Macht oder Politik. Ein Vorteil des Spiels: Es musste nicht in der Schule gespielt werden, sondern Lehrkräfte konnten zum Beispiel eine Unterrichtsstunde dazu nutzen, um mit den Schülerinnen und Schülern über das Spiel zu diskutieren. „Es gibt Lehrer mit großen Berührungsängsten, wenn es um digitale Medien geht, aber viele wissen auch, dass man Schüler auf diesem Weg sehr gut erreichen und begeistern kann“, erklärt Silke Zimmermann. Ein Lehrer berichtete über seine Erfahrungen mit dem Spiel: „Das Gameplay des Spiels lehrt definitiv, dass man nur zusammen und in guten Absprachen erfolgreich ist. Die Vor- und Nachteile der verschiedenen Regierungsformen muss man sensibel thematisieren, denn das Spiel ließe ja auch ein erfolgreiches Handeln in überwachten oder diktatorischen Formen zu. Wenn sich die Spieler nicht ausschließlich im Rahmen der Spielmechanik bewegen, kann immer wieder die Verbindung zu aktuellen politischen und sozialen Diskursen hergestellt werden.“
Das Computerspiel als Medium in der politischen Bildung nach vorne zu bringen und Demokratie über zeitgemäße Zugänge vermitteln – das soll mit dem Spiel erreicht werden. Politisches Verständnis erwächst vor allem aus eigenen Erfahrungen, und „Utopolis“ bietet die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu fördern und Jugendliche in ihrer Lebenswelt abzuholen, zu der digitale Welten selbstverständlich mit dazugehören. „Junge Menschen sind sehr sensibel, wenn es um gesellschaftliche Prozesse wie In- und Exklusion geht“, ist sich Ralf Nemetschek sicher. Auch wenn ihnen immer wieder eine Organisationsmüdigkeit bescheinigt werde, haben sie ein extremes Bewusstsein für gesellschaftliche Zusammenhänge und seien am politischen Geschehen in ihrem Umfeld interessiert. In einem Fragebogen zur Evaluierung des Spiels schrieb ein Jugendlicher: „Teamwork ist sehr wichtig. Man muss sich in einer Gemeinschaft auf Kompromisse einlassen, auch wenn nicht jeder damit zufrieden ist, um sein Ziel zu erreichen. Dies ist, wie mir jetzt aufgefallen ist, in der Politik oft der Fall.“ Jemand anderes äußerte: „Es wurde gut aufgezeigt, dass man in der Gruppe zusammenhalten und sich in der Gemeinschaft einbringen muss, um etwas zu erreichen.“