von Kathleen Fietz

Ein Box-Sack, eine neue Pausenregelung, ein Smartphone-Day: An der Freiburger Pestalozzi-Realschule hat sich im vergangenen Jahr eine Menge verändert. Das Besondere daran: Die Ideen für die Neuerungen haben die Schülerinnen und Schüler selbst entwickelt und eingebracht, sie haben darüber diskutiert und schließlich abgestimmt. Möglich gemacht hat diese Beteiligung „aula – Schule gemeinsam gestalten“ – ein Modellprojekt, das derzeit an vier deutschen Schulen getestet wird.

„aula“ steht für „ausdiskutieren und live abstimmen“ und wurde von der ehemaligen Geschäftsführerin der Piraten, Marina Weisband ins Leben gerufen. „Nach meinen Erfahrungen in der ‚großen Politik’ wollte ich etwas tun, um den Spalt zu überwinden, den Menschen zwischen sich und der Politik als etwas Fernem empfinden. Ich wollte dieser gefühlten Ohnmacht, dem Rückzug ins Private und dem Populismus etwas entgegensetzen“, erzählt sie über die Entstehungsgeschichte von „aula“. „Neben Strukturen braucht es vor allem Kompetenzen, um demokratisch handeln zu können. Schule schien mir der perfekte Ort dafür zu sein, diese zu vermitteln“, erklärt sie weiter. Um nicht Konsument einer Demokratie, sondern ihr Gestalter zu sein, brauche es Fähigkeiten wie das Formulieren eigener Ideen, die Suche von Mehrheiten, die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und das Nachdenken darüber, welche Auswirkungen bestimmte Entscheidungen auf Minderheiten haben können. Das alles können Schülerinnen und Schüler mithilfe von „aula“ erproben und einüben.

Von der „wilden Idee“ bis zur Umsetzung

Der Prozess der Beteiligung läuft dabei nach einem festgelegten „Fahrplan“ ab: Zuerst schließt die Schulkonferenz einen „aula“-Vertrag ab, der besagt, dass alle beschlossenen Ideen auch wirklich umgesetzt werden müssen. Damit wird der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Schülerinnen und Schüler stark erweitert, da sie nun Aufgaben übernehmen, die zuvor nur der Schulleitung oder den Schülervertretungen oblagen. Jede Schülerin und jeder Schüler kann während der sogenannten „Wilde-Ideen-Phase“ auf der Online-Plattform eine Idee einstellen, über die abgestimmt wird. Befürworten 30 Prozent aller Schülerinnen und Schüler diesen Vorschlag, kommt er „auf den Tisch“, wo er drei Wochen lang konkretisiert, verbessert und bearbeitet werden kann. Andere Schüler können die Idee kommentieren, liken oder disliken. Danach prüft die Schulleitung das Projektes auf seine Umsetzbarkeit gemäß des vorher vereinbarten aula-Vertrags und gibt es frei. Dann erfolgt eine erneute Abstimmung; bei einer einfachen Mehrheit steht der Umsetzung nichts mehr im Wege. Wichtig dabei ist auch das Liquid-Democracy-Prinzip, das besagt, dass alle Schüler bei jeder Abstimmung die Möglichkeit haben, ihre eigene Stimme an jemand anderen zu delegieren.

An der Freiburger Pestalozzi-Schule läuft das Projekt seit dem Schuljahr 2016/17 und was dort schnell sichtbar wurde: Egal wie gut die Idee ist und wie viele Schülerinnen und Schüler in einer „analogen Probeabstimmung“ dafür gestimmt hatten – es reicht nicht, den Schülern die Plattform nur zur Verfügung zu stellen und davon auszugehen, dass diese dann eigenständig genutzt wird. So gab es zum Beispiel die Idee, einen monatlichen Smartphone-Day einzuführen. Die Schülerschaft war begeistert, aber es stimmten viel zu wenig online ab, so dass die Idee am Ende nicht umgesetzt werden konnte. „Die Schüler haben gemerkt, dass es nicht reicht, eine gute Idee zu haben. Wie Politiker müssen sie für ihre Ideen werben, sie müssen Leute überzeugen und auf ihre Seite ziehen“, erklärt Dejan Mihajlovic, Lehrer an der Pestalozzi-Schule. Daraufhin malten die Schülerinnen und Schüler Plakate, sie gingen in die Klassen, machten Werbung für ihre Ideen und drehten Snapchat-Stories, um ihre Mitschülerinnen und Mitschüler von ihrer Idee zu überzeugen, nun steht die Idee erneut zur Abstimmung.

Beteiligung stärker auf dem Schirm haben

„Mit aula kann man Schulregeln verändern, und die Schule kann so mehr Spaß machen“, erklärt Daniel, der in die 9. Klasse der Pestalozzi-Schule geht. „Ich finde vor allem gut, dass man ernstgenommen wird“, erklärt die 14-jährige Eva. Für Dejan Mihajlovic liegt die Stärke von „aula“ vor allem darin, dass Partizipationsprozesse transparent gemacht werden und somit auch stärker ins Bewusstsein rücken – für Schüler und für Lehrkräfte. „Aufgrund der Sichtbarkeit haben auch viele Kollegen das Thema Beteiligung viel mehr auf dem Schirm“, erklärt er. Und ohne die Unterstützung des Kollegiums kann „aula“ nicht erfolgreich implementiert werden. „aula ist zwar ein Online-Projekt, aber in erster Linie ist es ein didaktisches Projekt und als solches braucht es Anleitung. Wenn die Lehrer nicht mitmachen, sind wir mit unserem Projekt aufgeschmissen“, ist sich Marina Weisband sicher. Deshalb gehört zu „aula“ nicht nur die Software, sondern auch ein didaktisches Material, es finden Einführungsworkshops statt, und einmal wöchentlich sollte es eine „aula“-Unterrichtsstunde geben. Den Schulen bleibt es dabei selbst überlassen, ob sie dafür die Klassenleiter- oder Klassenratsstunde nutzen, eine „normale“ Unterrichtsstunde ersetzen oder die Stunde im freiwilligen Nachmittagsbereich stattfinden lassen.

Wie wichtig diese didaktische Begleitung des Projektes ist, zeigt die Diskussion mit einer 10. Klasse. Auf die Frage, wie die Schüler „aula“ nutzen, antwortet ein Mädchen: „Wir nutzen das nicht mehr soviel, da wir nach dem Schuljahr sowieso abgehen und uns das deshalb nicht mehr so interessiert“, und kritisiert weiter: „Und außerdem wurde uns aula so hingeklatscht und gesagt: Macht mal. Wir brauchen da aber mehr Unterstützung“. Auf Nachfrage wird klar, dass die vorgesehene wöchentliche „aula“-Stunde in dieser Klasse nicht stattgefunden hat. „Es ist aber unsere Aufgabe, es zu nutzen, auch wenn wir bald nicht mehr da sind“, entgegnet ihr Mitschüler, „ich geb trotzdem meine Stimme ab, damit sich für die, die noch bleiben, was ändert.“ Aus der Diskussion über „aula“ entspinnt sich eine generelle Diskussion über die Möglichkeiten wirklich etwas zu bewegen und zu verändern. Argumente wie „Das bringt doch alles nichts“, „Schule und das Notensystem werden wir eh nicht ändern“, „Es gibt viel zu viel bürokratische Vorschriften“ werden entkräftet durch Beispiele, wie Schule wirklich verändert wurde und was Schüler an anderen Schule alles auf die Beine gestellt habe. Ein Zehntklässler sagt am Ende der Stunde: „Die Schüler sind sich nicht im Klaren darüber, was sie eigentlich alles verändern können. Sie haben viele Freiheiten, aber sie nutzen sie ganz oft nicht.“

Ohne didaktische Begleitung funktioniert es nicht

An dem Gesprächsbedarf der Zehntklässler wird klar, wie wichtig die didaktische Begleitung des Beteiligungsportals ist. Marina Weisband identifiziert drei Erkenntnisse aus der Pilotphase: 1.) Da Zeit an Schule immer ein großes Problem ist, müssen sie noch deutlicher machen: Die wöchentliche „aula“ Stunde ist gut investiert und lohnt sich! 2.) „aula“ muss noch stärker mit den bereits vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten an den Schulen verknüpft werden, denn das Projekt möchte keine Konkurrenz, sondern eine niedrigschwellige Ergänzung sein. 3.) Die Schülerinnen und Schüler müssen bei der Implementierung noch mehr in die Verantwortung genommen werden, vor allem die älteren müssen die jüngeren noch mehr unterstützen. An zwei der teilnehmenden Schulen gibt es bereits federführende „aula“-Schüleradministratoren.

Und auch sonst es gibt eine Menge Zukunftspläne. Nach den nächsten Sommerferien wird es „aula“ auch als App geben. „Was nicht auf dem Homescreen ist, existiert für die Schüler nicht“, erklärt Dejan Mihajlovic, „die Jugendlichen nutzen keinen Browser und loggen sie da erst ein.“ Das bestätigen auch viele der Schüler: Viel zu umständlich! Per App werden automatisch sehr viel mehr Schülerinnen und Schüler mitmachen, sind sie sich sicher. Derzeit wird außerdem eine Finanzierung für ein Botschafter- und Multiplikatoren-Programm gesucht. In jedem Bundesland sollen Lehrkräfte, Medienpädagogen und andere Interessierte ausgebildet werden, um „aula“ weiterzuverbreiten und die Nutzung medienpädagogisch zu begleiten.