von Kathleen Fietz

Jenfeld ist das, was man gemeinhin ein „Problemviertel“ nennt. Am östlichen Rand Hamburgs gelegen, empfängt einen beim Besuch erst einmal das Grau in Grau der Plattenbauten. Der Stadtteil wird immer wieder erwähnt, wenn es um Kinderarmut in der Hansestadt geht; hier leben viele Großfamilien mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, die meisten von ihnen in Sozialbauten. Das alles kennen und wissen die meisten. Dieses Bild hinterfragen, einmal hinter die eintönigen Fassaden schauen und die Leute und ihr Umfeld durch neue Sichtweisen kennenlernen, um dann etwas zu verändern – das setzten sich 2015 20 Schülerinnen und Schüler der Jenfelder Otto-Hahn-Schule zum Ziel, gemeinsam mit drei Lehrkräften und einer Stadtplanerin.

Jugendliche gestalten ihre Lebenswelt

„How I met my city – Future stories of today's cities“ hieß das Projekt, an dem die Klassen 10 bis 12 teilnehmen konnten. Es bot Jugendlichen die Möglichkeit, politische Teilhabe zu erproben, ihre Lebenswelt aktiv zu gestalten und orientierte sich dabei direkt an den Gegebenheiten ihres Sozialraums – denn auch wenn nicht alle von ihnen in Jenfeld leben, gehen sie aber alle hier zur Schule. „Jenfeld hat in Hamburg einen echt schlechten Ruf, und ich wollte aktiv etwas im Stadtteil bewegen“, erklärt Rohat. Er war wie die anderen teilnehmenden Schülerinnen und Schülern von seinem Klassenlehrer für das Projekt ausgewählt worden; entscheidend waren dabei nicht die Noten, sondern das Interesse, das sie am Thema bekundet hatten. Das Projekt fand außerhalb des Unterrichts in der Freizeit der Jugendlichen statt.

Bevor sie im eigenen Stadtteil loslegen konnten, mussten sie zunächst einmal stadtplanerische Instrumente kennenlernen. Dafür – und das war das Tollste an dem Projekt – konnten sie dank der Förderung durch das Programm „Erasmus+“ ins Ausland reisen. Das Konzept des Projektes sah vor, wissenschaftliche Methoden der Stadtplanung zuerst in anderen europäischen Städten gemeinsam mit ausländischen Schülern zu erproben, um sie dann zuhause im eigenen Umfeld anzuwenden. Jeweils fünf Schülerinnen und Schüler der Otto-Hahn-Schule fuhren dafür eine Woche nach Italien, Frankreich, Spanien und Bulgarien; wer wohin reiste, wurde zu Beginn des Projektes per Los entschieden.

Die Schule öffnet sich für neues Lernen

Damit die Jugendlichen lernen, ihre gebaute Umwelt mit allen Sinnen zu erkunden, baukulturelle Zusammenhänge zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden, hatten die drei beteiligten Lehrkräfte gezielt nach externen Referenten gesucht. „Wir wollten die Schule öffnen und ganz neue Methoden einbringen. Es war auch für mich neu und nicht immer leicht, das Unterrichten aus der Hand zu geben, aber wir wollten nichts präsentieren, sondern die Schüler machen lassen. Außerdem ist Stadtplanung auch ein Thema, von dem wir Lehrer nicht so viel Ahnung haben“, erzählt die Französisch- und Englischlehrerin Nicole Bartel. Gewinnen konnten sie für das Projekt die Stadtplanerin Jenny Ohlenschlager vom Verein Jugend Architektur Stadt (JAS). „Über baukulturelle Bildung wollen wir bei den Jugendlichen ein Verständnis für ihre Stadt schaffen. So entdecken sie ihr Umfeld nicht nur ganz neu, sondern lernen auch, wo und wie sie sich einbringen und in welchen Gremien sie ihre Bedürfnisse artikulieren können“, erklärt die Stadtplanerin das Ziel des Vereins.

Über den eigenen kulturellen Tellerrand schauen

Jenny Ohlenschlager war bei drei Reisen mit dabei und gab den Jugendlichen vor Ort immer andere wissenschaftliche Methoden der Stadtplanung mit an die Hand. So lernten die Zehnt- bis Zwölftklässler die fremden Städte und Umgebungen zunächst über neue Arten der Wahrnehmung kennen. Sie erforschten zum Beispiel in Spanien den Sound der Stadt Talavera de la Reina, ließen sich von Bewohnern deren Lieblingsplätze zeigen oder folgten bei ihren Erkundungen einfach stur einer geraden Linie, die sie vorher in ihren Stadtplan gezeichnet hatten.

Eine andere Methode war eine stadtplanerische Schichtenanalyse, mit Hilfe derer die Jugendlichen sich mit einer Problemsituation wie einem verschmutzten Fluss in Italien intensiv auseinandersetzten. Ausgestattet mit Tablets befragten sie Anwohner, untersuchten die Flora und Fauna, interviewten politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler zu den Ursachen für die Verschmutzung und trugen danach ihre unterschiedlichen Forschungsergebnisse auf einer gemeinsamen Karte zusammen. Sie lernten außerdem, ein stadtplanerisches Manifest zu formulieren und ihre Forderungen zu visualisieren, zum Beispiel in Form von Sprechblasen auf Aufstellern, und sie produzierten Filme über ihr Projekt. Dabei waren die Jugendlichen immer selbst gefragt und führten die Projekte in eigener Verantwortung durch. „Mir hat gefallen, dass uns nicht wie oft in der Schule etwas präsentiert wird, sondern wir selbst auf die Suche gingen“, erzählt die 18-jährige Jacqueline. Gleichzeitig verbesserten alle ihre Englischkenntnisse und dadurch, dass sie in Gastfamilien untergebracht waren, erlebten sie andere Sitten und Gewohnheiten hautnah mit.


Die Schüler geben als Multiplikatoren Erlerntes weiter

Nach den Exkursionen ins europäische Ausland ging es darum, die erlernten Methoden in ihrem direkten Umfeld anzuwenden. Alles, was die Schülerinnen und Schüler auf ihren Reisen gelernt hatten, trugen sie nach ihrer Rückkehr als Multiplikatoren in die große Gruppe. Der erste Schritt war, den eigenen Stadtteil mit neuen Augen zu sehen. Die Schülerinnen und Schüler gingen raus und befragten Passanten mit Kopfhörern: Welche Musik hören Sie gerade? Sie wollten wissen, wie die Jenfelder ticken, was ihnen hier gefällt und was sie nervt. Dafür setzten sie sich an Bushaltestellen, um mit Anwohnern ins Gespräch zu kommen. Sie nahmen die Baustile, Bewohnerstrukturen und Farben der Häuser genau unter die Lupe. „Danach geht man mit einem ganz anderen Blick durch den Stadtteil“, erzählt David.

Einen Begegnungsort schaffen

Selbstwirksamkeit erfuhren die Schüler vor allem dadurch, dass sie das Erlernte dann an ihrem größten Projekt direkt im Stadtteil erprobten: Zusammen mit den Jenfeldern entwickelten sie ein Nutzungskonzept für einen leerstehenden ehemaligen Supermarkt. Das Gebäude liegt etwa eine Viertelstunde zu Fuß entfernt von der Schule, auf einem großen Parkplatz zwischen Plattenbau und Ein-Euro-Shop, derzeit wird es als Lagerhalle benutzt. Die Jugendlichen starteten eine Umfrage und fanden so heraus, dass die Mehrheit der Anwohner sich hier einen Begegnungsort wünscht, ein Café, in dem man sich treffen kann. Die Schüler erarbeiteten dafür ein Konzept, stellten ihre Ideen in dem ehemaligen Supermarkt aus und trugen sie der Stadtteilkonferenz vor, die jetzt entscheidet, was damit geschehen soll. „Wir hoffen sehr, dass sich durch unsere Ideen etwas verändern wird“, sagt Michelle. Für Jenfeld wünschen sich die Jugendlichen außer einem Treffpunkt für alle vor allem eins: Farben für die Häuser. „Ich würde dem ganzen Betongrau hier so gern Farbe verpassen“, sagt Tajana und fast alle pflichten ihr bei.

So engagiert wie die Schüler von ihrem Stadtentwicklungsprojekt erzählen, zeigen sie sich auch in anderen Bereichen; von der oft prognostizierten Politikverdrossenheit ist bei den Jenfeldern nichts zu spüren. Alle, die über 18 Jahre alt sind, gaben bei der Bundestagswahl 2016 ihre Stimme ab. „Wir hatten alle Vertreter der großen Parteien in die Schule eingeladen, auch die AFD, die sich aber nicht getraut hat. Aber eigentlich ist das nicht Aufgabe der Schule, es kann sich auch jeder zuhause informieren und hat sogar die Pflicht dazu“, erzählt Osna. Was die Jugendlichen kritisieren: Themen, die sie wirklich angehen, werden zu wenig berücksichtigt wie etwa Bildung und Digitalisierung. „Die meisten Parteien machen Politik für Alte“, wirft Tajana ein. David, der Informatik studieren will, sagt: „Die Politik ignoriert, dass die digitale Welt längst Teil unseres Alltags ist, aber viele sind davon überfordert, auch die Lehrer. Wir haben zum Beispiel Smartboards in der Schule, aber viele Lehrer wissen gar nicht, was man damit alles machen kann“. Von Seiten der Politik wünscht er sich deshalb mehr Aufklärung und dass digitale Medien stärker in die Lehrpläne integriert werden.

Langfristige Wirkung über das Projekt hinaus

Auch wenn noch unklar ist, was aus dem Supermarkt-Gebäude werden soll, zeichnet das Projekt trotzdem eine langfristige Beteiligung über die zweijährige Laufzeit hinaus aus. Es gibt nun in jeder zehnten bis zwölften Klasse Stadtplanungsbeauftragte, die sich regelmäßig treffen und an der Jenfelder Stadtteilkonferenz teilnehmen. Was diese Konferenz derzeit am meisten umtreibt: Auf dem Gelände eines ehemaligen Erstaufnahmelagers für Geflüchtete soll ein interkultureller Garten entstehen, hier wollen sich auch die Schüler der Otto-Hahn-Schule mit ihren Ideen einbringen.