von Kathleen Fietz

Es ist Freitagabend, draußen ist es längst dunkel und ungemütlich nasskalt. Es riecht nach Kuhdung, und nur Hundegebell durchdringt ab und zu die ländliche Stille. Die perfekte Umgebung, um konzentriert zu arbeiten. Dafür sind 15 Jugendliche aus Norddeutschland in den niedersächsischen Ort Hüll angereist. Zum fünften Mal schon treffen sie sich hier für ein paar Tage, um an ihrem gemeinsamen Projekt zu arbeiten: Die Welt ein bisschen besser zu machen. Das wollen sie mit einem eigenen Film bewerkstelligen, den sie in den vergangenen Monaten gedreht und geschnitten haben. Nach dem gemeinsamen Abendessen werden sie sich in der ausgebauten Scheune des Hüller Bildungszentrums zum ersten Mal den Rohschnitt ansehen.

Jugendliche Lebenswelten als Filmvorlage

Sie haben sich einige Wochen nicht gesehen und alle erzählen durcheinander, die meisten auf Deutsch, auch wenn die Muttersprache der Hälfte der Jugendlichen Albanisch, Arabisch, Dari und Persisch ist. Als der Film startet, werden alle erwartungsvoll still. Sie sehen sich selbst als Schauspieler auf der Leinwand: als gemobbter Putzmann, als missverstandene Ehefrau, als nicht ernstgenommene Autokennerin, als muslimische Braut, die mit ihrem Zukünftigem über ein Marzipanschwein auf der Hochzeitstorte streitet oder als Pianist, der seine albanische Sängerin nicht versteht. Wer im Film nicht zu sehen ist, hat entweder hinter der Kamera gestanden, den Ton geangelt, sich ums Licht gekümmert oder die Filmmusik komponiert. Den wichtigsten Part spielt ein Apfel, der auf einer muslimischen Hochzeit – dem Setting des Films – immer weitergereicht wird und jeden, der ihn in die Hände bekommt, zu einem besseren Menschen macht, der aufhört zu mobben, auszugrenzen oder ungerecht zu sein. Anders als bei Adam und Eva verkörpert der Apfel hier nicht den menschlichen Sündenfall, sondern verspricht Erlösung. Und nicht nur eines Menschen, sondern der ganzen Welt. Eine echte Weltrettung eben.

„dieWeltrettung.org“ heißt deshalb auch das Projekt und versteht sich als eine „fiktive aktivistische Kunstorganisation“. Sie greift Themen auf, die die Jugendlichen umtreiben, und ermöglicht ihnen, sich zu beteiligen und eigene Zukunftsvisionen zu entwerfen. Das Projekt richtet sich an junge Laienkünstler ab 16 Jahren; einige sind in Deutschland geboren, andere mussten hier Asyl suchen. Wie Hayder, der vor zwei Jahren als unbegleiteter Jugendlicher aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet ist. Inzwischen lebt er bei einer Familie auf einem Dorf bei Lüneburg und träumt davon, Regisseur zu werden. Das professionelle Film-Know-how, das er in dem Workshop sammelt, bringt ihn seinem Traum ein ganzes Stück näher.

Von Profis lernen und eigene Ideen umsetzen

Nachdem die jungen Weltretter sich den Rohschnitt zweimal angeschaut haben, diskutieren sie darüber, was im Feinschnitt am nächsten Tag noch verändert werden soll, welche Einstellungen zu lang sind oder wo die Übergänge nicht ganz passen. Da geht es nicht nur um Technisches, sondern auch um kulturelle Eigenheiten: „Wieso versteht die Braut den Imam nicht?“, fragt die 20-jährige Hosna in die Runde, „auch wenn Arabisch nicht unsere Muttersprache ist, versteht man doch trotzdem, was der Imam bei so einer Hochzeitszeremonie sagt“. „Nein“, entgegnet Sarah, die im Film die Braut spielt, „bei uns in Albanien ist das nicht so, deshalb muss der Ehemann für seine Frau übersetzen“.

Die Jugendlichen diskutieren, die Schnittverantwortlichen erklären, was technisch möglich ist und was nicht. Wenn es Fragen gibt, schaltet sich Patrick Merz ein. Der Regisseur, der die Filmarbeiten betreut, ist immer darauf bedacht, sich eher im Hintergrund zu halten. Auch motiviert werden muss hier niemand. „Bei allen Projekten sind die Jugendlichen voll dabei. Hier lernen sie, die Ideen, die sie im Kopf haben, filmisch umzusetzen. Wir geben Inputs, aber sie machen alles selbst“, erklärt Patrick Merz. Und dabei setzen er und die anderen professionellen Filmemacher des Projektes immer direkt bei den Fähigkeiten der Jugendlichen an. In Kleingruppen haben sie, mithilfe von iPads, kleine Szenen gedreht – über Missstände in der Welt, die sie bewegen. So entstanden Episoden über Diskriminierung, Gewalt, Ungleichheit oder kulturell bedingte Missverständnisse, aus denen heraus dann das gemeinsame Drehbuch entwickelt wurde.

„Das Schönste für mich ist, zu sehen wie die Jugendlichen wachsen und Selbstvertrauen gewinnen und wie gut das Gemisch aus jungen Menschen, die hier aufgewachsen und denen, die hierher geflüchtet sind, funktioniert“, erzählt Merz. Schwierig an der Arbeit im Projekt war, dass nicht alle der anfangs 35 Teilnehmern kontinuierlich mitmachen konnten, das galt vor allem für Jugendliche, die noch nicht lange in Deutschland leben. Sechs von ihnen mussten wieder aussteigen, weil sie Arbeit gefunden oder Schwierigkeiten wegen eines ungeklärten Aufenthaltsstatus hatten, dafür stießen andere später hinzu.

Deutsche und Geflüchtete lernen voneinander

Nach der Arbeitsphase sitzen die Jugendlichen später am Abend gemeinsam im Speisesaal, trinken syrischen Matetee, spielen Billard und hören Musik. Hosna und die Schwestern Marie und Annika sitzen oben in ihrem gemeinsamen Zimmer und quatschen. „Mir gefällt hier, dass wir den Film so machen können, wie wir ihn wollen“, erzählt die 17-jährige Marie. Ihre Schwester Annika sagt: „Ich find es schön, mit so vielen Jugendlichen aus unterschiedlichen Kulturen zusammenzuarbeiten. Ich würde mich wirklich als tolerant bezeichnen, habe aber gemerkt: Auch ich habe noch Vorurteile und weiß vieles nicht. Ich habe hier ein positiveres Menschenbild bekommen“. Hosna stimmt ihr zu und erzählt, wie viel sie während der gemeinsamen Arbeit über Deutschland lerne. Die Mädchen fangen an, über Hosnas Kopftuch zu diskutieren, etwas, dass für die in Afghanistan Geborene unweigerlich zu ihrer Kultur gehört. „Der Workshop ist wirklich ein Weg, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen. Wir lernen uns kennen und arbeiten gemeinsam an etwas. Die Politiker sagen immer, dass sie nicht wissen nicht, wie Integration gehen soll. Hier könnten sie sich ganz viel abgucken, wie es funktionieren kann“, sagt Hosna, die vor zwei Jahren ohne ihre Eltern nach Deutschland kam.

Nachhaltigkeit durch Professionalität

Am nächsten Morgen geht es direkt nach dem Frühstück mit der Arbeit weiter. Außer den letzten Arbeiten im Schnitt, wollen die Jugendlichen heute einen Making-of-Film und einen Teaser produzieren. Das offene Ende ihres Films soll andere filmbegeisterte Jugendliche dazu einladen, die Geschichte weiterzuerzählen; dazu braucht es den Teaser, der gemeinsam mit dem Film im Kino laufen wird. Die Professionalität bei den Dreharbeiten unterscheidet das Projekt von vielen anderen Filmworkshops für Jugendliche. Sie bekommen nicht einfach eine Kamera in die Hand und drehen ein Wochenende lang, sondern sie haben über mehrere Monate hinweg mit professioneller Technik und gemeinsam mit Filmemachern an ihrem 15-Minüter gearbeitet, der in zwei Monaten im Kino Premiere feiert. „Wir möchten am Ende ein hochwertiges und nachhaltiges Produkt haben, damit den Film nicht nur die Eltern und Freunde der Jugendliche sehen, sondern auch Leute, die ihn gucken, weil sie ihn gut finden und nicht allein, weil ihr Kind oder ihr Freund da mitspielt“, erklärt Hennig Wötzel-Herber, der pädagogische Geschäftsführer des ABC Bildungs- und Tagungszentrum.

Für Hayder, der Filmemacher werden will, ist die Gruppe inzwischen zu einer Art Familie geworden: „Hierher zu kommen ist für mich wie nach Hause kommen“. Derzeit assistiert er bei einem Filmdreh und arbeitet er an seiner Bewerbung für die Filmhochschule. „Ich möchte erfolgreiche Geschichten von Menschen erzählen, die nach Deutschland gekommen sind. Geschichten, die Mut machen, es hier zu schaffen“. Gemeinsam mit Hosna und Marie arbeitet er an diesem Vormittag an einer Teaseridee, sie schreiben zusammen den Text in ihren Muttersprachen Dari, Arabisch und Deutsch, um ihn dann filmisch umzusetzen: „Um etwas Großes zu bewirken, braucht es niemanden, der berühmt ist oder Geld hat. Es braucht Leute, die etwas bewegen. Es braucht dich“.