von Kathleen Fietz

Schokoladengeruch weht über den Fluss rüber auf die Neckarwiese – dem Lieblingsort von Rümeysa. Dass sich die 15-jährige Mannheimerin hier so wohl fühlt, hat aber weniger mit der gegenüberliegenden Schokoladenfabrik zu tun, als vielmehr damit, dass sie hier alles in- und auswendig kennt. Über die Wiese führten ihre Laternenumzüge mit der Kita, hier ließ sie als kleines Kind Drachen steigen und heute trifft sie sich im Sommer mit ihren Freunden zum Grillen und Abhängen. Auch aus der Wohnung ihrer Familie kann sie direkt auf den Neckar, die großen Schiffscontainer und Fabriken schauen. Natürlich ist Neckarstadt-West keine „Schokoladenidylle“, aber für Rümeysa gibt es eben mehr als nur das Rotlichtviertel, sogenannte „Angsträume“ und Drogenprobleme, über die immer wieder berichtet wird.

Rümeysa ist ein selbstbewusstes, hochgewachsenes, sportliches Mädchen mit Zahnspange und dunklem geflochtenen Zopf, das laut spricht und viel lacht. Schon ihre Mutter, die als Fünfjährige aus der Türkei nach Mannheim kam, ist hier aufgewachsen. Rümeysas zweites Zuhause, der offene Jugendtreff QuiSt, liegt nur ein paar Schritte von der Wiese entfernt. „Ich liebe das QuiSt, Lejla und Tim und all die Projekte, die wir da machen“, erzählt sie. Vor drei Jahren war sie das erste Mal hier, ihre große Schwester hatte sie mitgenommen. Dass sie sich damals kaum hinein traute und dann ganz schüchtern herumstand, kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Mehr Demokratie durch Kunst

Das QuiSt heißt eigentlich „Qualifizierungsinitiative im Stadtteil“. Von 2015 bis 2017 haben die Pädagogen Lejla Noeske-Habibović und Tim Wurth hier das Projekt „Aufbruch! – junge Migrant*innen engagieren sich“ gemeinsam mit 30 Jugendlichen und sehr viel Herzblut durchgeführt. Das Ziel: Über Kunst Demokratie fördern. „Kultur-Projekte sind öffentlichkeitswirksam. Um das Bild des Stadtteils und damit auch das Bild der Jugendlichen zu verbessern, hat es sich angeboten, mit Kunst zu arbeiten“, erzählt Tim Wurth. Jugendliche zwischen 13 und 20 Jahren sollten Gelegenheit haben, ihren Stadtteil positiv mitzugestalten und ihn nach außen über Kunstaktionen zu repräsentieren. In den drei Jahren haben sie unter anderem ein Theaterstück über Respekt auf die Bühne gebracht, sie haben Straßenbahnmobs veranstaltet, draußen ein mobiles Wohnzimmer als Treffpunkt aufgebaut und ihr Jugendzentrum bei dem alljährlichen Kulturfestival „Lichtmeile“ präsentiert.

Wer sich einsetzt, kann etwas verändern

„Bevor ich ins QuiSt gegangen bin, war mir eigentlich egal, was in meinem Stadtteil los ist. Es hatte mit mir nix zu tun. Und ich bin auch gar nicht auf die Idee gekommen, etwas zu verändern“, erzählt Rümeysa. Dass das jetzt anders ist, merkt man bei einem Spaziergang mit ihr durch den Stadtteil ganz schnell. Sie zeigt auf das Bürgerhaus, wo verschiedene Stadtteiltreffen stattgefunden haben, auf denen Jugendliche ihre Ideen einbringen konnten. Die Sozialpädagogen des QuiSt haben die Jugendlichen immer wieder ermutigt, da hinzugehen. „Als ich vor dem Bürgermeister gesprochen habe, war ich total aufgeregt. Aber seitdem ich die Möglichkeit hatte, meine Meinung zu sagen und Sachen zu verändern, fällt mir auch viel mehr auf, was besser werden soll“, erzählt Rümeysa stolz.

Stark gemacht haben sich die Jugendlichen damals zum Beispiel für mehr Straßenlaternen im Viertel, damit sich vor allem Mädchen im Dunkeln sicherer fühlen, und dafür, dass etwas gegen die Raser im Viertel getan werde. Rümeysa zeigt auf die neuen Straßenschilder, die jetzt auf die 30er-Zone hinweisen und erzählt von neuen Blitzern vor ihrer alten Grundschule. Auf der Neckarwiese wurden in diesem Jahr Laternen und Bänke aufgestellt, Bäume gepflanzt und Wege angelegt. Die Jugendlichen merken, dass sich wirklich etwas tut, wenn sie sich einsetzen. „Schlechtes gibt es überall, ich mag es hier zu wohnen und bin stolz auf das, was wir erreicht haben. Dadurch bin mutiger geworden“, sagt Rümeysa.

Mit Starthilfe zu mehr Empowerment

Einen großen Anteil daran haben die beiden Sozialpädagogen Lejla Noeske-Habibović und Tim Wurth. Sie sind Ansprechpartner und Vertrauenspersonen für Rümeysa und viele andere, die fast jeden Tag ins QuiSt kommen. „Wir sind ein bisschen wie Mutti und Vati“, erklärt Lejla Noeske-Habibović, „das heißt aber nicht, dass wir den Mädchen und Jungen alles abnehmen“. Nachdem sie und ihr Kollege die Anträge für das Projekt geschrieben hatten und die Bewilligung in den Händen hielten, waren die Jugendlichen selbst gefragt. Gemeinsam überlegten sie, was sie auf die Beine stellen wollen. Schnell waren sich alle einig: Ein Theaterstück über die Themen, die hier im multikulturellem Zusammenleben immer wieder auftauchen: kulturell bedingte Missverständnisse, Vorurteile und gegenseitiger Respekt. „Als wir sie gebeten haben, für das Stück kleine Szenen zu schreiben, passierte jedoch gar nichts“, erzählt Lejla Noeske-Habibović aus der Anfangszeit. Nach mehrmaligen Bitten sei dann klar gewesen, dass die Jugendlichen zwar viele Ideen hatten, das Aufschreiben für sie aber eine unüberwindbare Hürde gewesen sei. Schließlich hat die Pädagogin die Mädchen und Jungen erzählen lassen – über das, was sie bewegt und über die Ideen für das Stück, und hat es für sie zu Papier gebracht.

Ähnliche Startschwierigkeiten habe es auch bei den Möglichkeiten der Beteiligung gegeben. „Wir mussten da schon immer mit hingehen. Allein hätten sich die Jugendlichen auf so ein Treffen vom Quartiersmanagement oder zu den Jugendkonferenzen nicht getraut“, erinnert sich Tim Wurth. Doch dank der anfänglichen Hilfe finden die Jugendlichen dann selbst ihren Weg. Und manchmal führt der auch in die etablierten Parteien wie zum Beispiel zu den Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Stolz zeigt der Pädagoge ein Foto, das einen „seiner Jungs“ zusammen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigt. „Mit dem Wort Beteiligung und stundenlangem Gerede können die nichts anfangen. Wenn ich aber sage, da geht’s um einen neuen Fußballplatz für euch, interessiert sie das natürlich und sie gehen hin“, erzählt Wurth weiter.

Berufsbildung der anderen Art

Rümeysa war bei allen Projekten mit dabei. „Sie ist durch die Projekte viel selbstsicherer geworden, sie hat eine tolle Entwicklung genommen“, erzählt Lejla Noeske-Habibović. Highlight für das Mädchen war im vergangen Jahr ein künstlerisches Berufsbildungsprojekt, bei dem die Jugendlichen ihre persönlichen Traumberufe selbst erfinden konnten. Spielerisch setzten sie sich mit unterschiedlichen Berufsbildern auseinander und kreierten eigene wie etwa den Shishatroniker oder die Ministerin für Unterhaltung und Spaß; Rümeysa erfand eine Kuscheltierpolizistin. Es gab ein großes Fotoshooting und eine Ausstellung während des „Lichtmeile“-Festivals.

Dass Rümeysa vor ein paar Tagen tatsächlich ihre Bewerbung als Polizistin rausgeschickt hat, ist allerdings kein Ergebnis dieser Aktion. „Ich träume davon Polizistin zu werden, seitdem ich ganz klein bin“, erklärt die Zehntklässlerin, die nächstes Jahr ihren Realschulabschluss macht. Und sollte das nicht klappen, hat die umtriebige Jugendliche auch noch eine Menge anderer Ideen. Vier Mal in der Woche ist sie in der Turnhalle, spielt selbst Basketball, trainiert die Kleineren und pfeift als Schiedsrichterin. Deshalb schließt sie eine Karriere als Profisportlerin nicht aus, sollte es mit dem Traumberuf Polizistin nichts werden. Und Politikerin? „Das wäre bestimmt auch interessant. Aber Politiker sind mir zu sehr im Kopf und reden zu viel. Ich will mich körperlich auch auspowern, das brauche ich“, sagt sie selbstbewusst.