Spartenstich auf der Baustelle. In etwa zwei Jahren soll hier das neue Schulgebäude stehen.
Foto: Constanze Franz

Das Projekt „Debate up! Gröpelingen“ verbindet Partizipation und digitale Bildung mit der Frage, wie wichtig Europa auf Stadtteilebene ist.

Wie viel Europa steckt in unserem Stadtteil und was macht ihn darin aus? Im Bremer Projektverbund „Debate Up! Gröpelingen“ können Schülerinnen und Schüler der Oberschule am Ohlenhof nun eine Antwort auf diese Frage geben: Der Stadtteil Gröpelingen ist vielfältig! Auf kleinem Raum kommen viele Kulturen, Religionen und Meinungen zusammen. Manche mögen darin ein Problem sehen, doch die Schülerinnen und Schüler stellen klar, was die Menschen im Stadtteil verbindet. Diese Gemeinsamkeiten tragen vor allem eine europäische Botschaft in sich.     

Noch braucht es einiges an Vorstellungskraft der Schülerinnen und Schüler. Dort, wo in etwa zwei Jahren eine von ihnen selbst gestaltete Gebäudewand stehen soll, bereiten zu diesem Zeitpunkt gerade erst die Bagger den Boden für die Bauarbeiten vor. Die Oberschule Ohlenhof im Bremer Stadtteil Gröpelingen entsteht in den kommenden Monaten völlig neu – dann sollen die insgesamt 263 Jugendlichen aus Containern in die größere, modernere Schule ziehen. Schülerinnen und Schüler der Klasse 9b beschäftigen sich allerdings schon seit dem Start des laufenden Schuljahres mit ihrer neuen Schule. Sie dürfen die Bemalung einer 40 Meter langen und sieben Meter breiten Wand nach ihren eigenen Vorstellungen entwerfen.

Doch die Fassade soll nicht irgendwie bemalt werden, sondern eine tiefergehende Bedeutung haben. Dafür setzen sich die 14- bis 16-Jährigen innerhalb des OPENION-Projektverbunds „Debate up! Gröpelingen“ regelmäßig mit ihrem Klassenlehrer Johannes Schumann und weiteren Partnern zusammen und erarbeiten, welchen Einfluss Europa auf sie selbst und ihren Stadtteil hat. Initiiert wurde die Unterrichtseinheit zusammen mit OPENION — Bildung für eine starke Demokratie, einem bundesweiten Projekt der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" gefördert wird.

Die Idee zum Projekt

Anlass ist die Vielfalt im eigenen Stadtteil: In Gröpelingen kommen viele Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen. „Wir haben einen Migrationsanteil von 80 bis 85 Prozent in den Klassen“, sagt Schulleiterin Silke Reinders. Es gibt die Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und deren Eltern nicht aus Deutschland kommen. Hinzu kommen diejenigen, die in den vergangenen Jahren in Deutschland zugewandert sind, sei es als Geflüchtete aus Syrien oder dem Irak, aber auch aus Polen, Bulgarien und anderen europäischen Ländern. Sie alle kommen in Klassen wie der 9b zusammen.

Zum vorerst letzten Mal trifft sich die Klasse an diesem Tag im sogenannten Digital Impact Lab des M2C, einem Institut für angewandte Medienforschung der Hochschule Bremen. Dort sollen sie in Kleingruppen einen konkreten Entwurf am Computer kreieren, wie die Wand der neuen Schule aussehen könnte. Unterstützung bekommen sie dabei von Lorenz Potthast und Peter Schwartz, Mitarbeiter des M2C. Sie zeigen den Schülerinnen und Schülern, was sie in dem Computerprogramm für Möglichkeiten haben, ihre Ideen umsetzen.

Doch bevor es so weit ist, müssen sich die Gruppen auf jeweils einen Begriff einigen, die sie im Laufe des Schuljahres zum Thema Europa in einem ständigen Austauschprozess erarbeitet haben. Der Beamer projiziert Wörter wie Frieden, Hilfe, Wandel oder Gemeinschaft an die Wand. Eine Schülergruppe hat sich für den Begriff Perspektive entschieden.

Viele Menschen behaupten, in Gröpelingen kann nichts aus einem werden. Wir wollen mit unserem Entwurf beweisen, dass das nicht stimmt, sagt der 14-jährige Tyrese.

Mithilfe einer Mind-Map sammeln die Teilnehmenden alles, was ihnen zum Begriff Perspektive einfällt und entwerfen erste Ideen, wie sie das Thema gestalterisch umsetzen könnten. Schnell werden sie sich einig: „In dem Bild wollen wir eine Frau zeigen, die sich durch keine Vorurteile von ihren Zielen im Leben abbringen lässt“, sagt der 15-jährige Brian-Alec. Zu diesen Zielen zählen sie unter anderem Familie, Erfolg im Beruf und Gesundheit.

Was hat Europa mit dem eigenen Leben zu tun?

Immer wieder mussten die Jugendlichen in den vergangenen Wochen reflektieren, wann Europa eigentlich eine Rolle in ihrem Leben spielt. Einige von ihnen interessieren sich für Austauschprogramme im Ausland oder könnten sich vorstellen, einmal in einem anderen EU-Staat zu arbeiten. Andere Schüler wären vielleicht gar nicht in Bremen gelandet, wenn es die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern nicht gebe. „Das hat in der Klasse schon zu angeregten Diskussionen geführt“, sagt Klassenlehrer Johannes Schumann.

Aktueller Anknüpfungspunkt für den Unterricht ist die anstehende Europawahl am 26. Mai. Bei den meisten Schülerinnen und Schüler werde Zuhause nicht über Politik gesprochen. „Zunächst haben wir uns deshalb den Begriffen Demokratie und Europa thematisch genähert“, erklärt Johannes Schumann. Zusammen mit den Experten des M2C haben sie anschließend Informationen über die Europawahl und den Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien eingeholt. Wichtig sei es dabei gewesen, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, auf welche Quellen sie zurückgreifen können, um im Internet seriöse Informationen zu finden.

Eigene Interviews führen

Im Zuge dieser Recherche hat die Klasse auch gelernt, wie Fragen für ein Interview aufgebaut werden – schließlich sollten sie in den folgenden Wochen herausfinden, was Europa für die Menschen in ihrem Stadtteil eigentlich für einen Stellenwert hat.

„Das war gar nicht so einfach, da das relativ abstrakt ist und nicht allen sofort etwas dazu einfällt. Aber allein dieser Prozess ist spannend“, fasst Johannes Schumann zusammen.

Ein Augenmerk lag darauf, Interviewpartner zu finden, die in besonderer Form mit dem Stadtteil Gröpelingen verbunden sind. So wurden beispielsweise die Leiterin der ansässigen Volkshochschule, Mitarbeitende des Jugendfreizeitheims oder auch ein Polizist interviewt. In den Zusammentreffen mit den Akteuren aus dem Stadtteil seien spannende Ansätze zustande gekommen, denn auch, wenn nicht jeder politisch aktiv sei, so spiele Europa für die meisten zumindest indirekt eine Rolle.

„Immer wieder wurde kulturelle Vielfalt im Stadtteil benannt. Ein Restaurantbesitzer sagte zum Beispiel, Gröpelingen sei wie ein eigenes kleines Europa“, erinnert sich Johannes Schumann.

Selbst entscheiden, was wichtig ist

Per Chatprogramm einigten sie sich auf Begriffe und Zitate, mit denen sie weiterarbeiten wollen.

„Die Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst, welches Abstimmungsverfahren für sie am besten geeignet ist. Wir kommen nicht mit der Wissenskeule daher, sondern fördern den Demokratieprozess unterschwellig“, sagt Peter Schwartz vom M2C. Bei den Jugendlichen kommt diese Arbeitsweise gut an. „Ich finde es spannend, dass wir unsere eigenen Ideen einbringen dürfen“, sagt die 14-jährige Nisa.

Das Lernen außerhalb der Schule sei für viele eine willkommene Abwechslung zum normalen Schulalltag. „Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich durch das Projekt sehr ernstgenommen, da sie etwas ganz Eigenes gestalten und selbst über den besten Entwurf bestimmen dürfen“, sagt Johannes Schumann. Da macht es auch nichts, dass die 9b ihren Abschluss vor der Fertigstellung der neuen Schule machen wird. „Dann kommen wir eben zu Besuch“, sagt Tyrese.

Während die drei Jungs schnell vorankommen, grübeln einige ihrer Mitschüler etwas länger über ihrem Entwurf. Shyukran und Nisa wollen etwas zum Thema Gemeinsamkeit gestalten. Letztendlich finden die beiden Mädchen etwas, das sie an die Wand bringen möchten:

„Wir wollen den Namen unserer Schule aus vielen verschiedenen Flaggen zusammensetzen. Das soll die unterschiedlichen Kulturen zeigen“, sagt die 16-jährige Shyukran.

Intuitives Arbeiten am Computer

Am Computer blühen die meisten der Jugendlichen noch einmal richtig auf. Das Programm, das sie nutzen, ist so intuitiv, dass die meisten mit der Bedienung keine Probleme haben und einige sogar in den Pausen weiter an ihrer Visualisierung arbeiten. Diese könnten unterschiedlicher nicht sein: Peace-Zeichen, Flaggen und viele weitere Icons setzen sie auf die imaginären Wände auf ihren Bildschirmen.

Nach der Hälfte der Zeit schaut sich die gesamte Gruppe die Zwischenergebnisse gemeinsam an. Dabei fällt auf: Nicht alle Symbole und Sprüche kommen bei allen so an, wie sie gemeint sind.

„Wir versuchen sie darauf aufmerksam zu machen, wie bestimmte Aussagen, Farben oder Symbole von anderen vielleicht missinterpretiert werden können. Aber auch dieser Prozess findet demokratisch in der großen Runde statt“, erklärt Peter Schwartz die Vorgehensweise.

Während dieser Arbeit stellen die Teilnehmenden ein kreatives Abstraktionsvermögen unter Beweis, mit dem selbst viele Erwachsene überfordert wären.

Die Schülerinnen und Schüler üben sich in politischer Arbeit

Welcher Entwurf am Ende gewinnt, ist noch völlig unklar. Die Ideen der Schülerinnen und Schüler werden nach den Projekttag noch einmal nachgearbeitet und bis zum Ende des Schuljahres der gesamten Schülerschaft zur Abstimmung gestellt. Politisch wird auch dieses Verfahren werden.

„Mit ihren verschiedenen Entwürfen müssen sich die Schülerinnen und Schüler ähnlich wie Parteien aufstellen und erklären, warum ihr Konzept das Beste ist“, sagt Lorenz Potthast.

Wenn die Schule fertig ist, soll es eine Kooperation mit einem Künstler geben, der den Siegerentwurf dann an die Wand bringt. Den jüngeren Klassen etwas von sich zu hinterlassen, treibt die Klasse an und sie freuen sich auf ihren eigenen kleinen Wahlkampf in den kommenden Wochen.

„Ich wäre sehr stolz, wenn unser Entwurf gewinnen würde. Den kann man dann all seinen Freunden und der Familie zeigen“, sagt der 14-jährige Kamil.

Die kulturelle Vielfalt ist ein zentraler Gedanke, der ein gemeinsames Europa trägt, dies wird mit der Arbeit des Verbunds betont. Trotz all der Unterschiede, und diese bedeuten im Stadtteil und in der Schule auch Herausforderungen, war es im Projekt möglich, sowohl in den Befragungen in der Schule und in der Nachbarschaft einen gemeinsamen Wertekanon zu finden. Dieser ist durch und durch europäisch.

 

Text: Kristin Hermann