von Kathleen Fietz

Ein Vater kommt nach Hause und sucht seine Tochter. „Zeynep!“, schreit er durch die Wohnung. „Wo ist Zeynep?“, herrscht er ihren Bruder an. „Weiß ich nicht“, antwortet der. „Wieso weißt du das nicht? Wer ist der Mann zuhause, wenn ich nicht da bin? Geh sofort und such deine Schwester, los!“ Der Bruder ruft seinen Kumpel an, der hat Zeynep in einem Einkaufszentrum gesehen, und gemeinsam gehen sie dorthin. „Da ist sie, los schnapp sie dir und lass uns abhauen“, drängt der Kumpel. Der Bruder zögert, ihm ist die Situation sichtlich unangenehm. „Dicker, was für ein Bruder bist du denn? Mach hin! Was sollen die Leute denken?“ Der Bruder bittet seine Schwester mit nach Hause zu kommen, doch die will noch nicht. „Es ist doch noch früh, ich will noch bisschen mit meinen Freundinnen chillen.“ Der Kumpel fährt dazwischen: „Was? Wie redet sie mit dir? Hat sie keine Ehre? Dicker, wenn das meine Schwester wäre...

Beim Beobachten dieser nachgestellten Szene beschleicht einen sofort ein ungutes Gefühl. Die Situation wird offensichtlich nicht gut ausgehen – für die Schwester nicht, aber für ihren Bruder wahrscheinlich auch nicht. Doch das erfahren wir als Zuschauende nicht, denn hier endet das Rollenspiel von Deniz, Nesimi und Alper. Routiniert schlüpfen die drei jungen Männer in die Rollen von Vater, Bruder, Kumpel und Schwester, und man merkt ihnen an, dass sie diese Situation schon oft nachgespielt haben. Mit Szenen wie diesen eröffnen die „Heroes“ ihre dreistündigen Workshops an Schulen – vor gemischten Klassen, meistens Neunt- oder Zehntklässler.

Wer möchte ich sein?

Nach dem Rollenspiel fangen die Schülerinnen und Schüler oft direkt von selbst an zu diskutieren. Einige haben ähnliche Szenen selbst erlebt, andere schon einmal beobachtet, oder sie erzählen von anderen Begebenheiten, wo Mädchen und Jungen nicht gleichberechtigt behandelt werden. Die Klasse diskutiert darüber, was sich für Mädchen gehöre und wie sich Jungen verhalten sollten. Es geht um unterschiedliche Geschlechtermodelle, um Familien, die von ihren Kindern ein bestimmtes Verhalten erwarten und um die Vorstellungen von Frauen und Männern in der Öffentlichkeit. An den Workshops nehmen auch Lehrer oder pädagogische Fachkräfte teil, die sich aber im Hintergrund halten. Die „Heroes“ diskutieren mit den Mädchen und Jungen und versuchen in der Diskussion irgendwann zu dem Punkt zu kommen, dass sich die Schüler fragen: Was will ich eigentlich? Wer möchte ich sein, wie möchte ich leben? Und wie möchte ich eigentlich, dass mit meiner Schwester umgegangen wird? „Wir verändern natürlich in der kurzen Zeit noch nicht so viel, aber wir sind eine Art Eisbrecher. Und sie sehen an uns: Wir setzen uns für Gleichberechtigung ein und sind trotzdem coole Jungs“, erklärt Nesimi.

Nesimi, Deniz, und Alper sind drei von inzwischen fast 40 ausgebildeten „Heroes“ in Berlin, die sich für Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzen. Um selbst Workshops zu leiten, durchlaufen die „Heroes“ ein einjähriges Training. Jeden Montag treffen sie sich dafür in ihrem Büro in Neukölln, einem weiß gestrichenen Raum mit einer großen Couch, immer Kekse und Chips auf dem Tisch. Hier tun die jungen Männer vor allem eines: Sie reden. Über Männer und Frauen und ihre Rollen, über ihre Familien, über ihre Wünsche und Berufsvorstellungen. An der Wand ist auf Deutsch, Arabisch und Türkisch zu lesen: „Nichts ist kläglicher als Respekt, der auf Angst basiert“ von Albert Camus. Ja, auch über Angst und Respekt reden sie, denn ihr Ziel ist, gegen Unterdrückung im Namen der Ehre zu kämpfen. Die jungen Männer sind zu Beginn der Ausbildung zwischen 15 und 20 Jahre alt, der älteste aktive „Hero“ ist inzwischen 28. Einige kamen über Freunde zu den „Heroes“, andere hatten an ihrer Schule an einem Workshop teilgenommen, bei dem die Schüler ihr Interesse an der Multiplikatorenausbildung anmelden können.

Junge Männer unter Druck

Einige der „Heroes“ stammen aus Familien, in denen patriarchale Strukturen und der Begriff der Ehre eine große Rolle spielen – für Frauen und Männer. Durch die Erwartungen der Familien an die Jungen stehen diese oft unter einem großen Druck, die ihnen zugedachte Männerrolle erfüllen zu müssen. Und das ist nicht der einzige Druck, dem die jungen Männer ausgesetzt sind. Genauso oft müssen sie sich in ihrem Alltag mit dem Vorurteil des machohaften, gewalttätigen Migranten auseinandersetzen. In diesem Spannungsfeld aus widersprüchlichen Erwartungen bewegen sich die Jungen. „Wenn über Unterdrückung im Namen der Ehre gesprochen wird, liegt der Blick meistens auf den Mädchen, was auch verständlich ist. Wir sind immer noch das erste und bisher einzige Projekt, das sich an die Jungs richtet, die auch davon betroffen sind, da von ihnen ein bestimmtes Rollenverhalten erwartet wird“, erklärt Martina Krägeloh, die Leiterin des Projektes. „Die Jungs leiden selbst sehr darunter, dass sie unter solchem Druck stehen. Hier öffnen sie sich immer mehr, und wir alle lernen voneinander“, erzählt Asmen Ilhan. Er selbst kam als 15-Jähriger vor einigen Jahren über Freunde hierher und war sehr skeptisch; er wusste nicht so recht, was es bringen soll, dass hier junge Männer mit älteren diskutieren. Er selbst ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Mädchen und Frauen gleichberechtigt behandelt werden und trotzdem wollte er gern ein „Hero“ werden, denn das Training versteht sich auch als eine Begleitung zur Persönlichkeits- und Identitätsbildung, die alle Heranwachsenden gleichermaßen durchlaufen. Inzwischen ist Asmen Ilhan als Gruppenleiter bei den „Heroes“ angestellt.

Jede Gruppe hat zwei Leiter, die als eine Art große Brüder fungieren. Sie diskutieren mit den Jungen über alles, was diese bewegt. Sie üben die Rollenspiele für die Workshops ein, und jede Gruppe entwickelt auch ein eigenes. Die Szenen, die sie nachspielen, haben sie so selbst erlebt, beobachtet oder sie werden zum Beispiel vom Mädchenbeirat der „Heroes“ gebeten, ein bestimmtes Thema aufzugreifen. „Wir arbeiten hier in einem Dreischritt“, erklärt Martina Krägeloh, „wir Mitarbeitenden reflektieren gemeinsam im Team über Geschlechterrollen und -erwartungen, mit denen wir ja in unserem Alltag jeden Tag aufs Neue konfrontiert werden. Dann arbeiten die Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter mit den angehenden ‚Heroes’ und die ‚Heroes’ wiederum gehen mit diesem Ansatz dann an die Schulen“. Nach einem Jahr werden die jungen Männer zu ausgebildeten „Heroes“ und dürfen an Schulen Workshops geben.

Bestehende Gräben nicht noch mehr vertiefen

Das Projekt bewegt sich in einem stark und kontrovers diskutierten Feld, vor allem nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln. „Wir haben mitunter auch schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht, und vieles wurde uns in den Mund gelegt, um vorgefertigte Bilder noch zu untermauern“, erzählt Nesimi. „Wir müssen immer wieder klar machen: Wir sprechen hier von keinem Phänomen der islamischen Kultur, sondern von bestimmten Milieus, in denen der Begriff der Ehre eine zentrale Rolle spielt. Wir haben auch Anmeldungen von jungen Männern, die aus keinem muslimischen Land, sondern zum Beispiel aus Südamerika stammen. Seit den Ereignissen in Köln sind wir noch bemühter, uns ganz präzise auszudrücken, um die bestehenden Gräben nicht noch mehr zu vertiefen“, erklärt Martina Krägeloh. Und dabei sei nicht zu vergessen, dass patriarchale Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sei, das auch Familien ohne Migrationshintergrund betreffe und  in den Workshops zur Sprache komme.

Einige der „Heroes“ arbeiten inzwischen selber an einer Schule, wie Nesimi, der soziale Arbeit studiert und während seines dualen Studiums gleichzeitig schon an einer Schule arbeitet. Er vermittelt Workshops, aber meistens ergreifen Lehrkräfte die Initiative und rufen bei den „Heroes“ an. Viele von ihnen sind verunsichert. In ihren Klassen ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund hoch; oft haben sie mit einigen Jungen Probleme und wissen nicht, wie sie mit Fragen von bestimmten Männerbildern und Geschlechterrollen umgehen sollen und wie sie diese Probleme thematisiert können, ohne einzelne Schülerinnen und Schüler zu stigmatisieren.  

Ein neuer Blick auf Geschlechterrollen

Diese Workshops laufen sehr erfolgreich, was vor allem an dem Peer-to-Peer-Ansatz der „Heroes“ liegt. Sie bekommen schnell einen guten Draht zu den Schülern, gerade wenn sie aus ihren Lebensgeschichten erzählen. Und davon hat jeder eine ganz eigene. Devrim kommt zum Beispiel nicht aus Neukölln wie die meisten anderen, sondern ist in einem gut situierten Stadtteil aufgewachsen. Ein Onkel hatte von dem Projekt gehört und ihn so zu den „Heroes“ gebracht, da war Devrim 15 Jahre alt. Inzwischen gibt auch er Workshops an Schulen und die „Heroes“ haben ihm in vielerlei Hinsicht weitergebracht: „Die Gespräche hier haben mir zum Beispiel auch geholfen, zu merken, dass ich das Falsche studiere.“ Devrim hatte gleich zu Beginn des Studiums festgestellt, dass „Nachhaltiges Management“ ihn einfach zu wenig interessiere und studiert nun seit einigen Semestern Jura.  „Ich habe bei den ‚Heroes’ viele Vorbilder gefunden und mich sehr verändert. Mein Blick auf Geschlechterrollen ist ein anderer geworden, vieles war mir vorher einfach gar nicht bewusst.“