von Kathleen Fietz

Wer der Schiller-Schule in Bochum einen Besuch abstattet, versteht schnell, warum sie 2017 den Demokratie-Preis der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. gewonnen hat. Schon in der Eingangshalle mit den marmorierten Wänden und den schweren, schönen Lampen prangt ein eingerahmtes, selbstgemaltes Plakat: „Ich bin schwul, hetero, transsexuell, lesbisch, bisexuell … ein Mensch!“ An der Durchgangstür zu den Klassenräumen klebt der Raumplan für die Lerninseln; im Glaskasten gegenüber informieren Aushänge über das Antimobbing-Team der Schule und das Konzept der individuellen Förderung.

Partizipation wird an der Bochumer Schule großgeschrieben: Schülerorientierung, kooperatives Lernen, Feedback-Systeme, Schülersprechtage und Selbsteinschätzungsbögen sind nur einige Beispiele dafür, wie demokratisch die Gymnasiasten hier lernen. Ein kurzer Besuch reicht bei weitem nicht, um all diese Ansätze kennenzulernen, und so fällt die Entscheidung zunächst auf eine Stippvisite bei einer Klassenratssitzung der 6d. Der Klassenrat tagt einmal im Monat, zu Beginn werden eine Protokollantin sowie zwei Zeit- und ein Regelwächter bestimmt. Die heute zu besprechenden Themen sind an die Tafel geschrieben: Fußball und Wandertag. Cornelius und Leah stehen vor der Klasse, sie sind heute mit Moderieren dran.

Beim Klassenrat ist die Meinung aller gefragt

„Man müsste besprechen, wo man spielen darf und wo nicht“, schlägt eine Schülerin vor, nachdem sie sich gemeldet und nun das Wort bekommen hat. Die Klasse diskutiert darüber, dass es im Turnbereich der Sporthalle immer wieder Ärger gebe, wenn dort Fußball gespielt werde. Nach einer Abstimmung beschließt die Klasse, das Thema mit in die nächste Sitzung der Schülervertretung zu nehmen. Alle Hände schnellen nach oben, als das nächste Thema der Agenda dran ist: Wohin soll der nächste Wandertag gehen? Cornelius und Leah schreiben die Vorschläge an die Tafel: Wasserski, Ski fahren, Trampolinhalle, Wasserpark, Lasertag, Klettern … Als einer der Sechstklässler dazwischenredet, geht der Junge, der heute Regelwächter ist, zu ihm hin und ermahnt ihn. Auch der Zeitwächter passt auf und ruft irgendwann: „Ihr habt die Zeit überzogen!“. Kurz vorm Ende der Stunde wird der Klassenrat noch ausgewertet. „Das habt ihr gut gemacht, ihr habt jeden angehört“, sagt ein Mädchen zu den beiden Moderatoren. „Ja, ihr habt gut moderiert, aber die Regelwächter haben sehr streng aufgeschrieben“, wirft ein Junge ein.

Die Klassenlehrerin Annamarie Alduk sitzt in der letzten Reihe, während der Klassenrat tagt und meldet sich, wenn sie etwas ergänzen möchte, wie zum Beispiel dass die Trampolinhalle für den Wandertag leider nicht in Frage komme, da einige Eltern das nicht möchten. „Die Schüler lernen hier, dass Demokratie nicht bedeutet, dass ihre Meinung immer die wichtigste ist, sondern dass es Mehrheitsentscheidungen gibt“, erklärt sie, „und sie lernen hier eine Debattenkultur kennen: Man kann und muss sich einbringen“. „Ich mag an meiner Schule, dass keiner ausgeschlossen wird“, antwortet die elfjährige Karla auf die Frage, ob sie gern auf ihre Schule gehe. „Ich kann immer zu meiner Lehrerin kommen, und sie hilft mir“, sagt Antonia, die auch die 6d besucht.

„Demokratiebildung ist ein Energizer“

An der Schule fällt auf, dass Partizipation nicht nur in der Gestaltung der Pausen und im außerunterrichtlichen Schulalltag gelebt wird, sondern auch im Unterricht selbst. In der Laudatio, die die damalige NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann bei der Preisverleihung gehalten hat, heißt es: „Die Schule zeigt in beeindruckender Weise, wie Demokratiepädagogik nicht nur in der Schulkultur, sondern auch in der Lernkultur integriert ist.“

„Demokratiebildung ist wie ein Energizer: Kinder von heute sind die kritischen und engagierten Demokratinnen und Demokraten von morgen, die sich gegen Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus argumentativ zur Wehr setzen können.“ Ulrike Kahn, geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V.

Wichtig dabei seien vor allem Kooperationspartner außerhalb der Schule, sie seien „das Salz in der Suppe“, da das Lernen ohne deren spezifisches Expertenwissen und die realen Erfahrungen nur halb so interessant und abwechslungsreich sei.

Durch die starke Partizipation der Schülerinnen und Schüler identifizieren diese sich sehr stark mit „ihrer“ Schule. Die Kehrseite dabei: Es kostet viel Zeit. „Die Gespräche und Entscheidungsfindungsprozesse brauchen Zeit und wir müssen immer mitbedenken, welche Gremien und Arbeitsgruppen wann angesprochen und eingebunden werden müssen. Aber es lohnt sich! Was hilft es, wenn einer bestimmt und alle anderen führen blind aus? Dazu wollen wir unsere Schülerinnen und Schüler nicht erziehen, und in so einem System wollen wir auch nicht arbeiten“, erklärt Matthias Wysocki, der didaktischer Leiter der Schiller-Schule.

Nach der Pause geht es weiter in den Politik-Wirtschafts-Unterricht einer achten Klasse. In Tischgruppen diskutieren die Jugendlichen darüber, welches Thema sie als nächstes durchnehmen wollen. Währenddessen bittet die Lehrerin Ilona Stursberg vier der Schüler, dem Besuch in einem anderen Raum das Demokratieprojekt der Internationalen Klasse vorzustellen. Die vier Jugendlichen sind vor zwei Jahren aus dem Irak und Syrien nach Deutschland geflüchtet. „Als wir neu waren, haben uns die anderen Schüler geholfen und sich um uns gekümmert. Die Internationale Klasse ist wie ein Zuhause, wir sind gut befreundet“, erzählt die 13-jährige Saadea. Sie besucht wie die anderen etwa zur Hälfte die Internationale Klasse und zur anderen Hälfte die Regelklassen. „In den Regelklassen lernt man auch die anderen gut kennen, zum Beispiel auf Klassenfahrten. Ich fühle mich deshalb in beiden Klassen sehr wohl“, erklärt ihr Mitschüler Marwan.

Warum sind freie Wahlen wichtig?

Das Demokratieprojekt der Internationalen Klasse fand vor den Bundestagswahlen 2017 statt. Die Klassenlehrerin Ilona Stursberg hatte mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht über politische Systeme gesprochen. „Die Schüler wussten nicht, dass wir in einer Demokratie leben. Angela Merkel ist ja ihre Ikone, und sie dachten, wir haben eben eine nette Diktatorin. Und als sie auch noch hörten, dass sie abgewählt werden könnte, konnten sie das nicht glauben“, erzählt die Lehrerin. Noch erstaunter seien die Schülerinnen und Schüler darüber gewesen, dass nicht alle Menschen zur Wahl gehen, denn Freiheit bedeute alles für sie. So entstand die Idee, Briefe zum Thema „Warum ist Wählen wichtig?“ zu schreiben. Wie bei so vielen Projekten an der Schule kam die Idee von den Schülern selbst, und alle haben freiwillig mitgemacht. „Lieber deutscher Mensch, was für ein Glück hast du, in einem demokratischen Land zu leben. Warum? Das erzähle ich dir jetzt …“ beginnt jeder Brief. Der 16-jährige Marwan schreibt in seinem: „… Demokratie ist schön, weil es gute Regeln gibt. In Syrien müssen Kinder oft schon mit acht Jahren arbeiten. Weißt du warum? Weil es keine guten Regeln gibt, die das verbieten …“ Die meisten der Briefe enden mit der Aufforderung, zur Wahl zu gehen.

Die Briefe wurden in der Schule ausgehängt und in anderen Klassen vorgelesen. „Viele wissen nichts über uns, sie denken zum Beispiel, wir wären in unserer Heimat arm gewesen und deshalb gekommen, aber das stimmt nicht. Über die Briefe sind wir ins Gespräch gekommen, und vielen ist bewusst geworden, wie frei sie hier sind“, beschreibt Marwan die Reaktionen seiner Mitschüler auf die Briefe. Der wohl prominenteste Leser war Norbert Lammert, der ehemalige Bundestagspräsident, bei seinem Besuch in Bochum. Gerade hat er der Internationalen Klasse einen persönlichen Brief geschrieben und ein Paket mit Informationsmaterialien aus dem Bundestag geschickt.

Zukunftsvision statt Klassenarbeit

„Für mich waren die Briefe sehr berührend. Ich habe so Dinge über meine Schüler und über ihre Flucht erfahren, die ich mich nie getraut hätte, einfach zu fragen“, erzählt Ilona Stursberg, als alle wieder zurück im Politik-Wirtschafts-Unterricht sind. Die Achtklässler diskutieren erneut in Tischgruppen. Die Aufgabe diesmal: Sie sollen sich vorstellen, wie ihre Schule 2025 aussehen wird. Statt eine Klassenarbeit zu schreiben, sollen sie überlegen, wie sie die Zukunftsvision ihrer Schule darstellen können. „Ihr könnt in die Rolle eines Journalisten schlüpfen und einen Artikel über eure Schule schreiben. Oder ihr könnt die neue Schulleiterin sein und eine Rede am Tag der offenen Tür 2025 halten. Denkt abseits von einer schnöden Klassenarbeit und werdet kreativ“, erklärt Ilona Stursberg den Schülerinnen und Schülern die Aufgabenstellung. „Die Kinder heute wachsen sehr konsumorientiert auf. Sie sollen hier an der Schule lernen, politisch zu handeln“, erklärt die Lehrerin ihren partizipativen Unterrichtsansatz. Die Schülerbeteiligung entstehe nicht von allein, sondern die Schule müsse sich zur Aufgabe machen, diese aktiv zu fördern und die Schülerinnen und Schüler immer wieder motivieren, über den Tellerrand zu schauen.

Das Engagement der Schule für demokratische Bildung hat nicht zuletzt auch viel mit der Persönlichkeit des Schulleiters zu tun. Hans-Georg Rinke ist am Tag des Besuchs leider nicht an der Schule, da er kurzfristig verhindert ist. Und doch ist er überall präsent. Ob in den Gesprächen mit der Schülerschaft oder den Lehrkräften – überall spürt man, wie sehr er das Profil der Schule prägt. „Das Büro des Schulleiters ist immer offen, man kann da immer rein“, sagt ein Schüler. Im nächsten Jahr wird der Schulleiter in Rente gehen und eine wichtige Einstellungsvoraussetzung für seine Nachfolge wird mit Sicherheit sein, dass sein Engagement für eine demokratische Schulentwicklung weitergeführt wird.