von Kathleen Fietz

„Ist er behindert?“, „Warum läuft und redet er so komisch?“ – Getuschelte Fragen wie diese, verstohlene Blicke und manchmal sogar Beleidigungen begleiten Linus und Jasper schon ihr ganzes Leben. Beide haben von Geburt an eine Cerebralparese. Durch einen Sauerstoffmangel bei der Geburt wurde das Gehirn so geschädigt, dass ihr Bewegungsapparat nicht richtig funktioniert, und Linus und Jasper können über ihre Bewegungen nicht selbst bestimmen, sondern diese geschehen meist unwillkürlich. Linus ist 17 Jahre alt. Vor zwei Jahren hatte er die Idee für das Handicap Lexikon – eine Webseite, die über verschiedene Handicaps aufklärt, damit Unsicherheiten und Hemmungen im Umgang mit Menschen mit Handicap abgebaut und eine größere Akzeptanz gegenüber Gehandicapten wie ihm erreicht wird. Linus langjähriger Freund Jasper war von der Idee sofort begeistert und mit im Boot. Der 22-Jährige ist ausgebildeter Mediengestalter, arbeitet für die Berliner Behindertenzeitung und hat das Logo, Flyer, Banner und T-Shirts für ihr gemeinsames Projekt entworfen.

Das Handicap-Lexikon ging Ende 2015 online. Linus und Jasper erklären dort beispielsweise den Unterschied zwischen Autismus und dem Asperger Syndrom, man findet Informationen über Glasknochen, Epilepsie oder Skoliose. In ihrem Blog berichten sie aus ihrem Alltag, in ihrem YouTube-Kanal sind ihre selbstproduzierten Filme zu sehen, und sie posten regelmäßig bei Facebook und Twitter alles, was sie bewegt. „Viele wissen einfach nicht, dass es gar nicht schlimm ist, behindert zu sein“, erklärt Linus. Smartphone, iPad und Computer sind aus dem Leben von Linus und Jasper nicht wegzudenken. Digitale Tools erleichtern beiden ihren Alltag enorm, vor allem den sozialen Austausch mit anderen. Japser zum Beispiel ist in Unterhaltungen auf sein iPad mit Sprach-App angewiesen, da eine Spastik sein Sprachzentrum lähmt und er nicht sprechen kann. Das Display bedient er mit der Nase, zu Hause benutzen die beiden eine spezielle Tastatur und einen Joystick. „Mit Linus hab ich so jede Woche mehrmals Kontakt“, tippt Jasper in sein iPad ein.

Jugendliche mit und ohne Handicap mischen sich gemeinsam ein

Die beiden arbeiten nicht nur zusammen an ihrem Handicap Lexikon, sondern sind auch zwei der rund 40 Jugendlichen zwischen 14 und Anfang 20, die regelmäßig bei der jup!-Jugendredaktion mitarbeiten. Durch ihr Handicap Lexikon haben sie das Berliner Beteiligungsportal kennengelernt. „Ich hab das Lexikon im Internet entdeckt und die beiden sofort angeschrieben“, erzählt die Medienpädagogin Mareen Brauer, die sich bei „jup! Berlin“ um die Jugendredaktion kümmert. Seitdem arbeiten Japser und Linus regelmäßig in der Jugendredaktion mit, auf der europäischen Jugendmesse YOU 2017 sind sie sich die drei dann persönlich begegnet.

Das Portal „jup! Berlin“ wurde 2015 von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft ins Leben gerufen. Die Idee dahinter: die Beteiligung von Jugendlichen durch eine Plattform stärken, die sie selbst mit entwickeln und bespielen. Das grobe Konzept stand, aber wie die Webseite genau aufgebaut sein sollte und welche Inhalte für die junge Zielgruppe interessant sind, haben die Jugendlichen in vorbereitenden Workshops gemeinsam entschieden. „Uns war es wichtig, dass die Jugendlichen von Anfang an beteiligt waren. Wir haben als Erwachsene einfach ein ganz anderes Nutzungsverhalten“, erklärt Mareen Brauer. Um Interessierte für die Workshops zu finden, haben sie und ihre Kollegen gezielt Schulen angesprochen, Plakate aufgehängt, Flyer verteilt und Eintrittskarten für die YOU verschenkt. Auch über die Medienkompetenzzentren in den Bezirken und einzelne Jugendämter konnten sie viele Jugendliche erreichen. „Die jup!-Redaktion wächst seitdem stetig. Regelmäßig melden sich Jugendliche und fragen, wie sie bei jup! mitmachen können“, erklärt Mareen Brauer.

Vom Konzerttipp bis zur Europapolitik

Das Konzept des Portals fußt auf drei Säulen: Da gibt es zum einen Informationen für Jugendliche, die Erwachsene zusammenstellen, es gibt zweitens die Jugendredaktion und drittens Beteiligungsprojekte auf verschiedenen Ebenen, um so viele Jugendliche wie möglich in Berlin miteinzubeziehen und ihnen ein Sprachrohr zu geben. Die Übergänge sind dabei immer fließend. Die Jugendredaktion trifft sich alle zwei Wochen zu Redaktionskonferenz, zu der meistens zwischen zehn und 15 Jugendliche kommen. Die setzen aktuelle Themen, die derzeit in den Medien sind und sie interessieren oder ihnen persönlich in ihrem Umfeld auffallen. Sie erstellen Redaktionspläne und besprechen, wer zu welchem Event geht und welches Interview führt. Doch auch außerhalb dieser Sitzungszeit sind die Redaktionsräume offen. Die Jugendlichen können hier von montags bis freitags arbeiten, sich austauschen, recherchieren, Artikel schreiben, Equipment ausleihen, Podcasts oder Videos produzieren. Dabei steht immer eine medienpädagogische Begleitung zur Verfügung, aber wenn die Jugendlichen sich schon genügend auskennen, arbeiten sie auch selbständig.

Auf ihren unterschiedlichen Kanälen – der Webseite, Facebook, Twitter, Instagram und YouTube – ist alles zu finden, was Heranwachsende bewegt: Was soll ich nach der Schule machen? Was läuft am Wochenende? Welches Album ist hörenswert? An wen kann ich mich bei privaten Problemen wenden? Wie kann ich mich politisch engagieren? Die jungen Reporterinnen und Reporter gehen zu Filmpremieren, führen Interviews oder berichten aus dem Europaparlament. Bei Facebook hat „jup! Berlin“ derzeit etwas mehr als 2.500 Abonnementen. Zu den Informationen, die Erwachsene für die Jugendlichen zusammenstellen, gehören zum Beispiel die Dossiers der Themenreihe „Auf Augenhöhe – Berlin gegen Gewalt“, das die Landeskommission Berlin gegen Gewalt (LkBgG) fördert. Rund um Themen wie linke und rechte Gewalt oder Cyberstalking gibt es Informationen, Videos, Interviews und Diskussionsveranstaltungen. Die Podiumsdiskussionen dazu bereiteten die Jugendlichen selbst vor, die Jugendredaktion übernimmt die Moderation, und wer nicht dabei sein kann, kann seine Fragen online einreichen und die Veranstaltung per Livestream auf Facebook und YouTube verfolgen.

Videos zur #MeToo-Debatte

Die Jungredaktion mischt sich dabei auch immer wieder in öffentliche Diskussionen wie die #MeToo-Debatte ein. Bereits Monate bevor die Diskussion aufkam, diskutierten die Jugendlichen auf einem Redaktionstreffen schon über das Thema sexuelle Belästigung, da eines der Mädchen auf dem Heimweg von einem Unbekannten belästigt worden war. Als sie von ihrem Erlebnis berichtete, fingen auch die anderen Mädchen an, von ähnlichen Übergriffen zu erzählen. So entstand die jup!-Riot-Reihe, in der jungen Frauen wöchentlich ihre Erfahrungsberichte veröffentlichten und einen Film zu dem Thema drehten, an dem auch die Jungs der Redaktion mitarbeiteten. Als das Video fertig gedreht war, kam plötzlich die große öffentliche #MeToo-Debatte auf. Nach der Veröffentlichung wurde ihr Video auf Facebook fast 7.500 Mal angeklickt.

„An Projekten wie diesen sehen die Jugendlichen: Schaut mal, ihr arbeitet an einem wichtigen Thema und plötzlich ist es überall auf der Agenda. Ihr hattet schon vorher ein Gespür für das Thema, und jetzt ist es auch im öffentlichen Bewusstsein.“ Mareen Brauer

Die 23-jährige Hannah, die aus Bergisch Gladbach stammt, ein Jahr in Berlin verbracht hat und die Riot-Reihe mit ins Leben gerufen hat, schreibt in ihrem Blog: „Aus meiner Zeit in Berlin ist das Jugend- und Online-Portal jup! gar nicht mehr wegzudenken. Ich habe dort nicht nur viele tolle Möglichkeiten geboten bekommen, coole Leute kennengelernt und Artikel geschrieben, sondern auch einen Ort zum Austauschen und Mitmischen gefunden.“

Social-Media-Takeover zum Inklusionstag

Auch die Idee für das Takeover der jup!-Social-Media-Kanäle durch Jasper und Linus rund um den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3.12.2017 kam von den Jugendlichen selbst. Fünf Tage lang bespielten die beiden den Twitter- und Instagram-Account und berichteten dort über Alltagserfahrungen und ihr Leben mit Handicap. Sie erzählten von ihrem Traum von einer eigenen Wohnung, von Linus Ausbildungssuche und davon, was sie vom Online-Dating halten. „jup! ist ein spannendes Projekt, davon gibt es für uns nicht so viele. Wir können jeder Zeit online gehen, unsere Vorschläge fließen ein, das find ich gut“, erklärt Linus und auch Jasper bestätigt das: „jup! ist eine tolle Möglichkeit, uns einzubringen“. Auch für die Zukunft haben die beiden genug Ideen, die sie bei „jup! Berlin“ umsetzen wollen. 2018 werden sie auf alle Fälle über die Para Leichtathletik-EM Berlin berichten und für diese im Vorfeld ein neues Sportgerät, einen Race Runner mit zwei Hinterrädern, testen. Mit Sicherheit ein Thema für die jup!-Jugendredaktion!